Für Boomer interessant

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Der Titel der Erzählung wirkt auf den ersten Eindruck unpassend, aber wenn man sich das Verhältnis von Mutter und Tochter anschaut, dann erkennt man, dass er passend die Beziehung der beiden zueinander beschreibt und sich die Tochter womöglich in dieser Plazenta selbst erkennt. Deshalb ist das Foto auf dem Cover auch berührend, vor allem, wenn man sich den Gesichtsausdruck der Mutter näher anschaut.

Die Geschichte selbst ist in mehrere Teile unterteilt: Kindheit, Adoleszenz und Erwachsensein. Besonders gut gelungen ist der Teil der Kindheit: Jeder, der seine Kindheit und Jugend in den 70er/80er Jahren durchlaufen hat, wird das eine oder andere in MarieOns Erinnerungen finden, das ihn nickend erschaudern lässt.

Diese Kindheit von Marion, die Marie genannt wird, ist geprägt von grausamen, rauchenden und trinkfreudigen Erwachsenen, die sich wenig um die Bedürfnisse und Befindlichkeiten von Kindern scheren. Geborgenheit reduziert sich auf Episoden, die nicht beständig sind. Die Angst dagegen ist eine ständige Begleiterin: ob vor der Unberechenbarkeit der überforderten Mutter, den sexualisierten oder gewalttätigen Entgleisungen ihrer jeweiligen Lebensgefährten - selbst eine Lehrerin und die Tante missbrauchen das Vertrauen des Mädchens durch ihr grenzüberschreitendes Verhalten. Auch das Gefühl von Scham ist allgegenwärtig: die falsche Kleidung bei der Kommunion, die demütigenden Attacken aggressiver Klassenkameraden, die blamable Situation beim Busfahren oder der erste misslungenen Kussversuch. Sich klein und unauffällig machen, um durchzukommen, das ist Maries Strategie.
Ja, die Welt in den 70er/80er war genau so: Ständig lief man Gefahr anzuecken, Übergriffen ausgesetzt zu sein oder sich vor Scham winden zu müssen.

Marie On gelingt es gut, diese Gefühle wieder zu erinnern. Sie erzählt ihre Kindheit schnörkellos und ohne Pathos. Das ist passend und lässt einen nachdenklich zurück - und froh, dass man dieser Zeit entronnen ist. Denn vieles hat sich seit damals zum Besseren verändert. Es ist gut, dass es heutzutage die meisten Erwachsenen nicht als normal erachten, Kinder zu demütigen oder zu züchtigen.

Die Erzählung von Maries Jugend und ihrer weiteren Entwicklung enttäuscht dann leider etwas: An manchen Stellen gleitet die Erzählung etwas zu sehr ins Deskriptive ab, wirkt eher wie Aufzeichnungen aus einem Tagebuch. Dann gibt es aber auch Stellen, die wieder interessanter sind, z. B. wenn sie beschreibt, wie immer wieder Männer, mit denen sie privat oder beruflich zu tun hat, unter Druck zu kleinen Despoten mutieren.

Sprachlich verrutschen im Laufe der Geschichte dann auch mal der eine oder andere Vergleich (z. B. „wie der Pisa Turm, der umfiel und mich unter sich begrub") oder eine Metapher (z. B. „der eurasische Pol der Unzulänglichkeit"). Auch sollten Rechtschreibung und Interpunktion nochmal fachkundig redigiert werden. Aber es sind ja auch Erinnerungen im Selbstverlag und es ist kein Roman, den ein Verlag herausgegeben hat.

Trotzdem: Privateste Erinnerungen einer Leserschaft offenzulegen ist mutig - und das ist positiv gemeint. Die Erinnerungen von MarieOn - vor allem der Teil, in dem es um ihre Kindheit geht - sind es auf jeden Fall wert, gelesen zu werden.