Wer ist Delphine de Vigan, wer ist L. - und wer hat eigentlich dieses Buch geschrieben?

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julie1602 Avatar

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Auf dem Cover steht zwar "Roman", aber auch "Nach einer wahren Geschichte", das ist sogar der Titel, also muss das ja ein Tatsachenbericht sein und alles ist genauso passiert, wie es da steht. Oder?

Das Thema - Schreibblockade einer berühmten Autorin, Ghostwriterin, die sich nach und nach immer mehr in ihre Arbeit und ihr gesamtes Leben drängt - klingt erst mal interessant und auch ganz plausibel. Warum sollte es so etwas nicht geben? Die Schilderung der Begegnung zwischen Delphine und L. und des Aufbaus ihrer Freundschaft kommt für meine Begriffe eher langsam in die Gänge, wirkt aber vielleicht gerade deshalb so realistisch. Im wahren Leben sind zwischenmenschliche Beziehungen ja eben tatsächlich meistens nicht von heute auf morgen da, sondern entwickeln sich mehr oder weniger langsam. Und wer wunderte sich in einem solchen schleichenden Prozess nicht schon mal darüber, wie er nun eigentlich in genau DIESE Beziehung und vielleicht auch eine gewisse damit einhergehende Abhängigkeit hineingeraten ist?
Fragt man sich im weiteren Verlauf des Buchs an der einen oder anderen Stelle, warum Delphine L. gegenüber nicht schon früher misstrauisch wird, so ist das Ganze doch nie so absurd, dass man ihm sofort das Prädikat "Fiktion" verleihen würde. Ja, das alles könnte genauso passiert sein. Oder eben auch nicht, denn während L. - aus Delphines Sicht verständlich - als die Böse dargestellt wird, stellt sich nach und nach immer mehr die Frage, wer hier eigentlich "verrückt" oder naiv ist - letzteres vielleicht am ehesten man selbst, denn man fühlt sich doch ein wenig ertappt, als sich zusätzlich zu den Verstrickungen um Delphine und L. als zweites Hauptthema des Buchs die Frage nach Realität und Fiktion in Büchern und der Umgang der Leser damit herauskristallisiert. Und am Ende - ganz buchstäblich - kann man sich wirklich nicht mehr sicher sein, was man da nun gelesen hat - einen fiktiven Roman, einen Tatsachenbericht, eine Mischung aus beidem? Gibt es überhaupt eine klare Trennung?

Der Autorin gelingt es mit einer bildreichen, aber gleichzeitig auch sehr klaren Sprache - hier möchte ich auch ausdrücklich die meiner Meinung nach sehr gelungene Übersetzung loben - und einer äußerst raffinierten Erzählweise, Grenzen zu verwischen und Fragen aufzuwerfen, die man sich bei den meisten Büchern nicht stellt. "Nach einer wahren Geschichte" ist eine Herausforderung und vielleicht muss man das Buch auch mehrmals lesen, um wirklich alle Aspekte zu erfassen. Ein faszinierendes Leseerlebnis, für das ich gerne die volle Punktzahl vergebe.