Wo beginnt die Wahrheit? Wo endet die Fiktion?

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hennie Avatar

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Delphine, die Hauptprotagonistin ist eine Schriftstellerin. Die Vornamensgleichheit zur Autorin fällt auf. Autorin und Romanfigur sollen verschmelzen, zumal Delphine als Icherzählerin auftritt.
Delphine erleidet eine „Schreibblockade“ in der reinsten, schlimmsten Form. Sie schreibt wirklich rein gar nichts mehr (keine E-Mails, keinen Einkaufszettel...)
All das passiert, nachdem sie die Bekanntschaft mit L. machte, einer Ghostwriterin.
War es Zufall, dass sie sich begegneten?

Delphine scheint von dieser Frau so fasziniert zu sein, dass sie nicht merkt, wie diese in ihr Leben eindringt. L. übernimmt ihre Erledigungen und Pflichten...
Ihr „affektiver Schutz“ (durch heftige Gefühlsäußerungen gekennzeichnet, überschnell und reflexartig) funktionierte bis sie L. begegnete. D. fühlte sich sofort von L. verstanden bis ins Innerste. L. scheint eine Seelenverwandte zu sein, sie stellen sich dieselben Fragen.

Ich zitiere: S. 41 „Menschen, die die echten, die wichtigen Fragen stellen, sind selten“.

Die spielerisch wirkende Intensität mit der L. auf D. einwirkt, nimmt zu, während D.´s Unsicherheit sich literarisch ausdrücken zu können, immer mehr abnimmt. Man erwartet eine Eskalation. Statt dessen entwickelt D. für alles, was nur irgendwie mit Schreiben zu tun hat, eine Phobie. Diese Schreibblockade äußert sich bald auch durch körperliche Abwehrreaktionen. L. sorgt indes weiter mit ihren Einwänden für Unsicherheit.

S. 100 „Deine Figuren müssen einen Bezug zum Leben haben“.
S. 101 Delphine aber glaubte:“Der Leser war immer bereit, der Illusion nachzugeben und die Fiktion für Wirklichkeit zu halten“.

Mit klarer, sachlicher Sprache versteht es die Autorin den Leser lange Zeit im unklaren zu lassen, welche Ziele L. verfolgt. Ich werde es nicht verraten!

Diese Fragen bewegen mich: Wo beginnt die Wahrheit? Wo endet die Fiktion?
Das ganze Geschehen um L. und D. stellt für mich ein gewieftes, listiges Verwirrspiel auf literarischem Gebiet mit Vermutung, Tatsache, Identität und Übereinstimmung dar.

Delphine de Vigan beschreibt großartig Gefühle und Empfindungen in atmosphärischen Dichte. Unterschwellig ist eine ständige Gefahr/Bedrohung im Verlauf der Geschichte zu spüren. Ein starkes Buch!

Martina Gedeck spricht das Hörbuch und leiht Delphine de Vigans Roman ihre schöne Stimme. Sie sagt über das Werk:
„Kluges und geheimnisvolles Spiel um Literatur und Wahrheit, Identität und Künstlertum. Ein wunderbarer Text.“
Dem kann ich nichts hinzufügen. Ich stimme ihr voll zu.
Das Buch verlangt Aufmerksamkeit beim Lesen. Es ist keine leichte Lektüre.