Bröckchen der Erinnerung

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dj79 Avatar

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Peter Zantingh berichtet über das Leben von Mattias, indem er kurze Geschichten über Menschen aus seinem Umfeld schreibt. Sie besitzen unterschiedlichste Erinnerungen an ihn. Dabei spiegelt jeder Charakter einen kleinen Ausschnitt unserer Gesellschaft wider. Es gibt beispielsweise die Rollen von Mutter und Vater, des Soldaten, des Migranten. Unter ihnen sind Gehetzte und Antriebslose, Alkoholiker, Sportler und Gamer.

Erstaunlich war, dass mich die Schicksale der direkten Angehörigen weniger berührt haben als das Leben des weiteren Umfelds. Amber, die Freundin, und auch die Eltern erschienen mir zudem weniger sympathisch. Gemocht habe ich neben dem ungewöhnlichen Laufpärchen, Quentin und Chris, den Alkoholiker Nathan.

Durch Quentin und Chris wurde sehr schön das zunehmende Einbrechen der Fähigkeiten richtig zuzuhören und sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen transportiert. Mit einem kleinen Schmunzeln hatte ich sofort gedacht, das wird nichts mit den Beiden. Trotzdem konnten sie für eine Weile „befreundet“ sein bzw. eine Zweckgemeinschaft eingehen. Als einer von beiden etwas zu aufdringlich wird, zu tief ins Private eindringen will, mehr Information fordert, droht das Ganze wieder zu zerbrechen. Gemeinsame Aktivitäten können zwar der Beginn einer Freundschaft sein, müssen jedoch nicht zwingend darin münden.

Nathan mochte ich nicht wegen seines ausufernden Alkoholkonsums, dennoch war er mir sehr nahe. Ich empfand starke Sympathie für ihn. Vermutlich verbindet uns das Widerstreben an einer Weiterbildung teilzunehmen, die einen nicht voranbringt, sondern nur alten Wein in neuen Schläuchen präsentiert, trotzdem so tut, als wären die Inhalte neueste Ergebnisse der Forschung. Unternehmensfremde, die vielleicht noch nie in diesem Job tätig waren, maßen sich an, Nathan zu erklären, wie er seine Aufgabe zu erledigen hat.

Generell scheint es heutzutage so zu sein, dass Jeder zu Allem immer noch einen Kommentar abgeben muss, ungefragt und oft unpassend. Das zwanghafte Präsentieren der eigenen Person mit den alltäglichen Nichtigkeiten kennt keine Grenzen. Vor diesem Hintergrund präsentieren auf Mattias Beerdigung eine Reihe von Bekannten ihren schmalen Blickwinkel auf ihn. So bleibt aus der Perspektive seiner Mutter seine wahre Geschichte verborgen. Das hat mich irgendwie erschüttert, weil es den Trauerprozess der direkten Verwandten stört.

Das Beste an diesem Roman ist seine Vielschichtigkeit und seine Offenheit. Die Schicksale werden jeweils kurz angerissen. Es wird nur so viel erzählt, dass der Leser das Ganze selbst zu Ende denken kann. In der Interpretation ist der Leser dann maximal frei. Leben im Hier und Jetzt, das ist die Grundaussage, die ich aus diesem Roman ziehe. Denn schon morgen könnte es vorbei sein und dann bleibt möglicherweise nicht mehr viel. Ergänzt wird dieser sehr ansprechende Roman durch ein Interview mit dem Autor, das man nicht auslassen sollte, und eine Playlist mit Musik, die im Roman eine wichtige Rolle spielt. Die Playlist ist zudem online direkt zum Abspielen verfügbar. Auch diese Verbindung zwischen dem Lesen und „neuen Medien“ hat mir richtig gut gefallen.

Ganz klare Lese- und Hörempfehlung.