Als moralischer Kompass tauglich

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Diane Olivers „Nachbarn“ kommt unscheinbar daher – in der Buchhandlung wäre es vermutlich nicht in meine Hände gewandert. Doch damit hätte ich etwas verpasst …

Ellies Eltern haben sich entschieden, ihren Sohn auf eine „weiße Schule“ zu schicken, Winifred geht auf ein College … Unerhörtheiten in den USA der 1960er Jahre. Und dergleichen gibt es mehrere in diesen Kurzgeschichten, die zunächst zusammenhanglos wirken mögen, jedoch Parallelen bzw. Gemeinsamkeiten aufweisen: die Umstände zwingen Menschen, gegen sie bzw. für ihre Überzeugungen zu kämpfen, wodurch eine angespannte, wütende, ja beinah aufgeheizte Atmosphäre entsteht – und das in der nächsten Nähe, direkt um sie herum, wo man sich an sich ja wohlfühlen möchte.

Mir will nicht so recht einfallen, wie man Diane Olivers geschickt gemachte Komposition beschreiben könnte: Sie bedient sich des Mediums der Kurzgeschichten, die titelgebende erzählt aus der Perspektive Ellies, die eigentlich „nur“ berichtet, was ihr auffällt – und das ist so einiges. Da geht es um Rassismus, Ausgrenzung, Aggression, aber auch Liebe, Politik, Gesellschaft, Individuen – festgemacht am „Distinktionsmerkmal“ Hautfarbe und erzählt in alltäglichen Situationen und exemplarischen Details (wie einer Busfahrt). Und nicht selten ertappt man sich beim Gedanken: Ist es wirklich erst 60 Jahre her, dass das Leben so war bzw. noch schlimmer, hat es sich nennenswert verbessert? Wenn einem dann bewusst wird, dass Diane Oliver Zeitzeugin war, erkennt man nicht nur den Umstand, dass sie ihrer Zeit weit voraus war, sondern auch, dass man mit ihr ein literarisches Talent viel zu früh verloren hat. Denn wenn sie bereits in jungen Jahren ein Werk wie „Nachbarn“ vorlegen konnte, was hätte sie mit noch mehr Reife schreiben können? Zwar sind Kurzgeschichten nicht jedermanns Sache, aber durch die „Klammer“ der nahen Umgebung liest sich das Buch flüssig. Das liegt auch an Olivers Stil, der sprachlich so brillant ist, dass einem die Figuren schnell ans Herz wachsen. Vielleicht liegt es auch daran, dass etwa Ellie jung ist und daher eine „unverbrauchte“ und doch vielleicht aus Benachteiligungen erwachsene reife, schlicht ungewöhnliche Sicht auf die Welt hat. So hält Oliver ihren Lesern den Spiegel vor, ohne den Finger auf ihn zu richten, wodurch das Buch als moralischer Kompass taugt. Nach der Lektüre bleibe ich nachdenklich zurück und wünschte, dass das Buch weniger aktuell wäre, als es ist.