Die Geschichte seines Lebens

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rippchen Avatar

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Die handelnden Figuren seines Romans „Nachruf auf den Mond“ hat Autor Nathan Filer äußerst sorgfältig ausgewählt: Sein Protagonist Matthew, der sich die Schuld am Tod seines Bruders gibt und im Verlauf der Romanhandlung immer stärker der Schizophrenie verfällt, ist eine ebensolch ausdrucksstarke Figur wie alle weiteren agierenden Personen - eine jede mit ihren ganz individuellen charakteristischen Eigenheiten behaftet.
Keine von ihnen jedoch verkörpert das gesellschaftlich häufig tabuisierte Thema „Menschen mit Handicap“ derart eindrücklich wie Matthew Holmes, dessen – vorrangig - psychische Entwicklung vom 9. bis zum 19. Lebensjahr dargestellt wird. Aus Sicht des Kindes wie auch eines jungen Erwachsenen lässt Filer seinen Protagonisten in einem stark personifizierenden, geradezu intimen ich-Erzählstil per schriftlicher Aufzeichnungen über vergangene, dramatische Ereignisse seines Lebens berichten. Im Hinblick auf die mit Matthews Leben eng verknüpften Ereignisse rund um seinen Bruder Simon stellt er dessen Gedanken und Gefühle, dessen Trauer und Seelenqualen in den Mittelpunkt seines Buches.
Dabei ist Matthews Schizophrenie für den Leser zunächst anhand „ungewöhnlicher“ Verhaltensweisen erkennbar und verdichtet sich im Verlauf der Handlung zu immer eklatanteren Symptomen: Zu seinem Leben zwischen Alltag und Ausnahmezustand gehören Erinnerungslücken und Wahrnehmungsstörungen ebenso wie ungeschickte Motorik, häufig verwirrte (und den Leser verwirrende) Äußerungen, Gefühls- und Gemütsschwankungen bis hin zu optischen und akustischen Halluzinationen und völligem Realitätsverlust.
Bereits äußerlich offensichtlich ist das Handicap seines drei Jahre älteren Bruders Simon, der bereits optische Anzeichen des Down-Syndroms aufweist.
Als ehemaliger Krankenpfleger in einer psychiatrischen Klinik weiß Autor Nathan Filer sehr genau, wovon er schreibt. Das tut er auf eine derart sensible, humorvoll-berührende Art, dass es den Leser schon ab dem ersten Kapitel unweigerlich in die Geschichte hineinzieht.
Zugleich gelingt es ihm hervorragend, den Spannungsbogen durch den gesamten Roman zu halten. Was tatsächlich hinter dem leicht schaurig anmutenden Beginn und diversen weiteren Geschehnissen steckt, erfährt der Leser tatsächlich erst am Ende des Buches.
Aufgrund diverser zeitlicher Erzählstränge, wechselnder örtlicher Gegebenheiten, vielfältiger Themen sowie der auf den verworrenen Gedankengängen des Protagonisten basierenden Erzählweise erscheint insbesondere die Abfolge der Romanhandlung zuweilen leicht konfus. Dies löst der Autor durch geschickte, die Aufmerksamkeit des Lesers fordernde inhaltliche Schachzüge wie auch diverse Schriftarten und -formen. Dabei erstrecken sich die formalen Unterschiede von Erzähltext, Dialogen und Briefen über Skizzen und Zwischentitel bis hin zu „gestalteter Sprache“, die nicht mehr nur den Inhalt trägt, sondern sich zugleich auch in einer entsprechenden Form manifestiert.
Am eindrucksvollsten jedoch hält Filer durch seinen „kranken“ Protagonisten der „gesunden“ Gesellschaft den Spiegel vor: Matthew analysiert die Welt auf seine ureigene Art - und die hat zuweilen wenig mit der Wahrnehmung eines „normalen“ Betrachters zu tun. Gerade darum zeigt er umso deutlicher ihre Schwachstellen sowie zahlreiche „verborgene Wahrheiten“ auf. Grandios!