Ein Buch wie eine Insel

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sarah_catherine Avatar

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„Nachtlichter“ ist eine autobiografische Erzählung von Amy Liptrot.
Im Anschluss an eine Therapie, die sie gemacht hat, um sich vom Alkohol loszusagen, lässt sie ihr Leben in London hinter sich und kehrt zurück in ihre Heimat, auf die Orkneyinseln nördlich von Schottland. Der Aufbruch fällt ihr schwer, denn auch zu Hause war nicht immer alles leicht. Landleben und die Scheidung der Eltern haben dazu geführt, dass Amy von den Inseln in ein vermeintlich spannenderes Leben in der Großstadt aufgebrochen ist („Ich wuchs inmitten des Himmels auf, mit einem gewaltigen Raumgefühl und doch eingeengt von den Grenzen der Insel und des Bauernhofs.“ [Seite 32]). Nie wollte sie nach Orkney zurückkehren, brach den Kontakt zu ihren Eltern fast ganz ab.
Doch auch die wilden Studentenpartys in London reichten Amy nicht. Gelegentlich nahm sie ihr ebenfalls in London lebender Bruder mit auf Raves und in Clubs. Im Laufe der Jahre, in denen sie sich mit Aushilfs-Schreibjobs über Wasser hielt, stieg ihr Alkoholkonsum, während der Kreis ihrer Freunde immer kleiner wurde. Glücklich fühlte sich Amy mit all dem nicht: „Während ich einmal mehr auf unbekannten Wegen mit dem Bus zu einem neuen Aushilfsjob fuhr, fragte ich mich, ob ich mich jemals wieder zu Hause fühlen würde oder ob ich ewig weiter in neue Lichter würde blinzeln müssen.“ [Seite 56] Schließlich zerbrach ihre Beziehung am Alkohol. Trotzdem brauchte es noch lange, bis Amy Liptrot sich schließlich ernsthaft zu einer Therapie entschließen und Gläser und Flaschen stehen lassen kann.
Am Ende sieht sie ein, dass es ihr nicht gut tut, weiter in der Stadt zu bleiben, und so bricht sie mit gemischten Gefühlen wieder auf in den hohen Norden, nach Hause auf die Inseln. Nachdem sie einige Zeit abwechselnd bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater auf dem alten Hof verbracht hat, beschließt sie in einem weiteren drastischen Schritt, ein paar Monate auf der Insel Papay zu verbringen, wo nur rund 300 Menschen leben. Immer wieder spürt sie in sich eine Sehnsucht nach dem Trinken, wie ein Schatten, der sich häufig im Hintergrund hält, aber dann und wann zum Vorschein kommt. Sie ist verzweifelt auf der Suche nach etwas, das sie von innen heraus erfüllt.
Im Rose Cottage hat sie endlich wieder ein eigenes Heim, wenn auch sehr einfach („Rose Cottage ist die perfekte offene Anstalt, in der ich für mich sein und trotzdem innerhalb einer geschützten Inselgemeinschaft gesunde, verantwortungsvolle Verhaltensmuster entwickeln kann.“ [Seite 180]). Amy erkundet tagtäglich die Umgebung für sich, kann das ruhige Leben auf der Insel genießen und findet so langsam wieder zu sich selbst.
„Nachtlichter“ ist ein sehr ruhiges Buch. Zwar sind die Schilderungen von Amys Alkoholexzessen beunruhigend und die Zeitsprünge, gerade am Anfang des Buches, bisweilen verwirrend. Doch vermutlich nimmt einen die Autorin genau damit richtig auf ihrem Weg mit. Später dann begleitet man sie nach Orkney, durch stürmische Nächte, beim Schwimmen im kalten Küstengewässer und durch beeindruckende Natur, die sie ergreifend beschreibt. „Nachtlichter“ ist kein Buch, in dem man mal eben so zwischendurch zwei Seiten lesen kann. Man muss sich ganz darauf einlassen, um eine Zeitlang in diese Landschaft, die immer auch Spiegelbild von Amys Seelenleben ist, einzutauchen. Es ist durch all ihre Kämpfe und Zweifel ein lebensbejahendes Buch, wunderbar erfasst in zwei Sätzen [Seite 322]: „Seit ich trocken wurde, fühle ich mich mitunter überrascht und beglückt vom ganz normalen Leben. Sie kann einem vorkommen wie eine Halluzination, diese erstaunliche Wirklichkeit.“