Ambivalenz trägt manchmal mehr zum Verständnis bei als Eindeutigkeit

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In seinem Buch „Nackt in die DDR“ geht der Autor Aron Boks den Spuren seines berühmten Urgroßonkels, Willi Sitte, Maler und Parteifunktionär der DDR, nach. Im Bemühen, dessen umstrittene Person zu verstehen, begibt er sich nicht nur tief in seine eigene Familiengeschichte, sondern schildert auch das Leben in der DDR, zusammen mit historischen und kulturpolitischen Hintergründen, die den Autor, selbst erst nach der Wende geboren, immer wieder fordern, sich zu den Entwicklungen zu positionieren und eine eigene Haltung zur DDR zu erforschen.
Ganz besonders spannend ist die Person Willi Sittes aufgrund ihrer Ambivalenz: Auf der einen Seite steht seine feste Überzeugung, einen idealen Staat im Sinne des Sozialismus aufbauen zu können und die Kunst in dessen Dienst zu stellen. Auf der anderen Seite stellt er sich und seine Kunst in den Dienst eines Systems, das die sozialistische Idee korrumpiert und, je schlechter der Zustand des Staates, desto härtere Mittel auffährt, ihr System aufrecht zu erhalten. Lange sieht er sich dem Druck und der Missachtung „der Partei“ ausgesetzt, doch er arrangiert sich und mit zunehmendem Einfluss weiß er das System für sich, aber auch für seine Schützlinge zu nutzen.
Der Autor zeichnet ein differenziertes, facttenreiches Bild von Willi Sitte. Auch wenn er auf der Suche nach einem Urteil über seinen Vorfahren ist, schließt er sich doch nicht einer der vielen Wertungen über Sitte an, sondern hält die Ambivalenz bis zum Schluss hin aus: Es gibt eben nicht nur Gute und Böse. Was eben auch zählt, ist die Idee, nicht nur ihre Realisierung.
Bei seiner Schilderung bezieht der Autor einen ganzen Chor von Stimmen ein. Zunächst einmal die seiner zahlreichen Verwandtschaft. Dabei entsteht ein umfassendes Familienporträt mit spannenden Personen und Familiengeschichten, die auch Sinnbild für das Leben in der DDR sind.
Da der Autor selbst zuvor kaum einen Bezug zur DDR hatte, obwohl seine Familie daher kommt – ein Umstand, der seine Neugier noch beflügelt -, erschließt er sich einen sehr persönlichen Zugang zu der Geschichte dieses Landes. Damit gelingt ihm eine spannende und sehr lebendige Darstellung der historischen, politischen und kulturellen Hintergründe, die gerade für jüngere Leser, die auch zur „Nachwendegeneration“ gehören, eine lohnendere Lektüre sein dürfte, als so manches Schulbuch.
Ein packendes Buch über Menschen und über die Geschichte unseres Landes, das zeigt, dass in der DDR nicht alles besser, aber bei weitem auch nicht alles schlechter war, und das wichtig ist, wenn wir uns – im doppelten Sinne – besser verstehen wollen.