Lieber vom Leben gezeichnet, ....

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martinabade Avatar

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Jahrelang bin ich mehrfach am Tag am Tafelbild „Rock-Sänger“ von Willi Sitte im Neuen Gewandhaus zu Leipzig vorbeigelaufen. Ich war auf dem Weg von Büro zu Büro, von Büro zu Saal, von Büro zur Kantine. Beim Lesen von „Nackt in die DDR“ ist er mir wieder in den Sinn gekommen, und ich habe gelernt, dass das Werk nach der ersten Präsentation gleich mal nach vier Wochen wieder abgehängt wurde, weil es Öbersten der ehemaligen DDR nicht konvenierte. Heute hängt er wieder, im Verein mit den anderen Großen der Maler-Quadriga Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Bernhard Heisig. Meister Heisig hatte sogar die Ehre, den Gewandhauskapellmeister Kurt Masur zu porträtieren.

Aus welchen Gründen Masurs Wahl damals nicht auf Sitte gefallen ist, keine Ahnung. Ob Sitte den Auftrag der Stadt Leipzig angenommen hätte, keine Ahnung. Aber die Beiden hätten sich etwas zu erzählen gehabt. Doch dazu später.

Aron Boks, Slammer, Journalist, Schriftsteller, ist jung. Für das Sujet, dass er sich gesucht hat, ist das ein Vorteil. Er ist der Urgroßneffe von Willi Sitte (1921 – 2013), und er hat sich entschieden, die Geschichte seiner Familie mit dem Schwerpunkt „Urgroßonkel“ zu schreiben. Das ist zum jetzigen Zeitpunkt ein kluger Move. Denn:

Es ist ausreichend Zeit vergangen, und der Abstand hilft vielleicht, die Dinge von mehreren Seiten zu betrachten.
Es gibt eine ausgezeichnete Quellenlage in und um die Familie Sitte. Die Archive quellen über. Viele Akteure, die beitragen können, besitzen Briefe und Notizen. Zahlreiche Familienmitglieder haben selbst Tagebuch geführt oder Unterlagen gesammelt, die sie nun, auf Nachfrage des Autors, in Koffern oder Pappkisten unter Schränken oder Betten hervorziehen.
Und die letzten Augen- und Ohrenzeugen leben noch.

Aron Broks entgeht der Versuchung, eine subjektive Familiengeschichte zu schreiben. Kein Voyeurismus wird befriedigt. Das hat sicherlich nicht nur mit der psychologischen Finesse des Autors tun sondern hängt auch am sagenhaft pragmatischen Umgang der noch lebenden Verwandten mit der Familien- und überhaupt der ganzen Geschichte. Wie sagen Großmutter oder Tante, wenn Aron sie nach ihren Reaktionen auf das ein oder andere Großereignis der deutschen Geschichte, Mauerfall, Wiedervereinigung, befragt: Dazu waren wir doch viel zu sehr mit unseren Dingen beschäftigt.
Zahlreiche erklärende Fußnoten und ein ausführlicher Literaturapparat rekonstruieren die Familiengeschichte von 1921 bis kurz nach der Wende. Immer den Fakten nach. Es gibt viel Wissenswertes, bisher vielleicht nicht Bekanntes, nicht nur aus der Familien- sondern auch anderen Quellen. Schüler, Zöglinge, Weggefährten, Freunde, Feinde, Parteifreunde. Die Personnage ist zeitbedingt deutlich herrenlastig.

Broks unterzieht sich mühsamen und langwierigen Recherchen. Stöbert Menschen auf, bringt sie zum Sprechen, führt Interviews. Was wir lesen, ist der Kampf und letztendlich das Scheitern des Kommunisten im Sozialismus. Wir lesen die Tragödie des Künstlers im Kampf mit der Obrigkeit. Wir lesen eine Spielart des ewigen Konflikts, Freiheit gegen Macht. Der Wissenschaftler Galileo Galilei gegen die Kirche, J. Robert Oppenheimer gegen die US Regierung. Heinrich Faust gegen den lieben Gott.

Willi Sitte selbst bleibt schillernd und uneindeutig. Mit Bezug zu Macht und Privilegien, eitel und gern im Mittelpunkt. Glühender Kämpfer für seine Schützlinge, Mahner an die Adresse der Mächtigen. Als Künstler selbst zu Beginn seiner Karriere unter „Formalismusverdacht“. Geführt als Informator in den Akten der Staatssicherheit. Bewahrer der Freiheit der Kunst?
Und da schließt sich der Kreis nach Leipzig. Auch der Gewandhaus-kapellmeister Kurt Masur kannte diesen Spagat nur zu gut.

Boks gelingt die Fusion von Geschichtsbuch und Tagebuch, zwischen Weltgeschichte und Familiengeschichte. Lehrreich und anrührend – und immer sehr respektvoll.

Ach ja, und das Finale spielt natürlich wo? In Ahrenshoop, wo sonst.