Europa im Zeitraffer

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Fast jeder von uns ist sicher schon des Öfteren chinesischen Reisegruppen begegnet, ob im Urlaub an einer der vielen Sehenswürdigkeiten, die Europa zu bieten hat oder auch hier in Deutschland. Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich meist entweder genervt oder belustigt auf diese Grüppchen mit ihren Reiseführern und Selfiesticks reagiere. Genauer mit ihnen befasst habe ich mich aber bisher nie. Nur die Tatsache, dass viele Chinesen möglichst viel Europa in recht kurzer Zeit erleben wollen, war mir bereits bekannt. Das ist so ziemlich genau das Gegenteil von dem, wie ich persönlich gerne reise.
Von daher sah ich in Christoph Rehages Buch die Chance, mehr über die chinesische Vorliebe für diese Art von Gruppenreisen zu erfahren und auch einige Vorurteile abzubauen. Und das ist dem Autor mit Neuschweinstein auch gut gelungen. Ich habe einige Dinge erfahren, die mir bisher nicht so bewusst waren. Zum Beispiel, dass man oft gar keine Chance hat, ein Visum für sein eigentliches Wunschreiseziel zu erhalten und dann eben woanders hin reisen muss und manche eine immense Summe als Kaution hinterlegen müssen, um überhaupt reisen zu dürfen. Da wird es dann verständlicher, warum möglichst viele Sehenswürdigkeiten während einer Reise abgeklappert werden müssen. Was mir auch nicht bewusst war und was ich ziemlich schade finde, ist, dass die chinesischen Reisegruppen in kulinarischer Hinsicht kaum einen Eindruck von der Vielfalt in Europa bekommen können, weil es sich bei der im Preis enthaltenen Verpflegung im Normalfall um Mahlzeiten in Asia-Restaurants eher minderer Qualität und ohne jeden Charme handelt, mit der keiner der Reisenden wirklich glücklich ist. Christoph Rehage ist es aber auch gelungen, dass man nicht nur die chinesische Reisegruppe als Ganzes wahrnimmt, sondern auch einzelne Personen näher kennen lernt, mehr über deren Leben im fernen China erfährt und sie so teilweise sogar ins Herz schließt. Außerdem empfand ich es auch als sehr interessant, Europa einmal durch die Augen von Chinesen, für die viele unserer Bräuche eher fremd sind, anders als bisher wahrnehmen zu können.
Der Schreibstil des Autors ist flüssig und angenehm lesbar. Was mich allerdings etwas gestört hat, ist, dass er oft in der Wir-Form schreibt, um zu zeigen, dass er sich als gleichwertiges Mitglied der Reisegruppe sieht. An sich finde ich das ja gut und er versucht auch wirklich, sich genauso zu verhalten, wie seine chinesischen Mitreisenden und keine Sonderbehandlung zu bekommen. An manchen Stellen wirkt das aber etwas zu gekünstelt und unnatürlich, zum Beispiel, wenn die Chinesen von irgendeiner Verhaltensweise der Europäer überrascht sind, die dem Autor als Deutschen aber eigentlich als ganz normal erscheinen sollte.
Insgesamt hat das Buch aber meine Erwartungen, die ich vorab hatte, erfüllt und ich werden chinesischen Reisegruppen nun mit weniger Vorurteilen begegnen.