Perfektionismus - der neue Zeitgeist

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marlibu Avatar

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Psychologe Thomas Curran hat ein Buch mit dem Titel „Nie gut genug - Die fatalen Folgen des Perfektionismus und wie wir uns vom Selbstoptimierungsdruck befreien können“ im September 2023 bei Rowohlt vorgelegt. Er beschreibt Ursachen und Folgen, die ein permanentes Höher, Weiter, Besser und damit nie genug, für uns bedeuten. Es gibt nichts Gutes am Perfektionismus, sagt er. Die Gründe lägen in einer Kultur, deren Wirtschaft sich grenzenloses Wachstum, extreme Leistungsanforderungen und überbordendem Konsum auf die Fahnen geschrieben hat. Eine ganze Gesellschaft erschöpft sich. Um das zu belegen, hat er eine Studie mit 40.000 jungen Menschen durchgeführt, bei denen ein alarmierender Anstieg von Perfektionismus in den letzten 30 Jahren zu verzeichnen ist.

Das Buchcover ist nüchtern, schmucklos, in softem Grün. Clean, perfekt und etwas langweilig. Die Schriftfarbe ist Schwarz und durch eine zweite blasse Farbe ergänzt. Nur der Punkt auf dem i, der tanzt aus der Reihe! Das einzig Unperfekte - was kurz schmunzeln lässt.

Die Kapitel sind thematisch aufeinander aufgebaut. Der Fokus liegt eindeutig auf kulturellen Normen. Diese geht der Autor Kapitel für Kapitel durch. Sein Schreibstil ist immer wieder sehr persönlich. Wirkt manchmal autobiografisch und oft wie ein Roman. Er führt in den Begriff Perfektionismus ein und differenziert drei Formen, auf die er sich später immer wieder bezieht. So manche Überschrift spielt auf etwas Bekanntes an, das auf Perfektionismus hinweist. Was uns nicht umbringt, macht uns... von nichts kommt...
Erst ganz am Ende schreibt er über den Einfluss von Erziehung. Er sieht sie lediglich als einen Aspekt. Mir gefällt das gut.

Mein Eindruck
Sein Buch beginnt er mit einer persönlichen Wahrnehmung. Er beschreibt sehr detailliert eine perfekte Werbewelt, so wie wir sie allerorts, täglich inhalieren und setzt eindrucksvoll seine Beobachtung einer als unperfekt erlebten Realität dagegen. Das gibt einen Vorgeschmack auf das, wie er das Thema angeht - nämlich in Verbindung zu eigenen Erfahrungen. Mich nimmt der dabei sofort mit. Warum aber wird der Eine perfektionistisch und der Andere nicht?

Curran zeigt den Unterschied auf zwischen Perektionismus und Gewissenhaftigkeit. Letzteres mache Spaß, perfekt zu sein hingegen nicht. Deshalb gibt es für ihn auch keinen gesunden Perfektionismus. Auch mich hat diese Koppelung schon immer gestört. Ich fand sie falsch. Etwas was mich stresst und krank macht, kann doch nicht gleichzeitig gesund sein.

Perfekt sein zu müssen, das zeigt Curran, wird uns schon früh von unserem Umfeld aufgedrängt. Wir leben in einer Kultur, die mit Fehlern und Scheitern nicht besonders klug umgeht. Da wir aber soziale Wesen sind und dazu gehören wollen, passen wir uns diesen Normen an. Eltern geben kulturelle Normen automatisch an ihre Kinder weiter. Sie wollen, dass diese in der Welt gut klarkommen.

Curran bennent Standards, denen wir in unserer Kultur nicht entkommen, wenn wir Erfolg haben, uns sicher und dazugehörig fühlen wollen. Bedrückend ist seine Beschreibung, wie gerade junge Menschen immer stärker in den Sog geraten, durch den permanenten Vergleich auf Social Media und weil sie in einer Welt aufwachsen, in der nichts mehr sicher zu sein scheint. Das Gefühl, möglicherweise nicht gut genug zu sein, etwas nicht schaffen können, oder gar Fehler zu machen, treibt gerade sie in beunruhigende Lösungsversuche. Wir können es dann auf Instagram, Facebook, TickTock usw studieren. Die Werbeindustrie macht sich das dankend zu Nutze und fährt immer größere Gewinne ein.

Der Autor verbindet eindrücklich, die Bedingungen unter denen wir in einer Konsumkultur leben und verbindet sie mit dem was wir glauben sein zu müssen, um zu bestehen. Er sagt, Perfektionismus sei keine "individuelle Besessenheit - es sei eine ausgesprochen kulturelle". Es sei die Art und Weise wie wir die Welt gelernt haben zu sehen und das sei zu einer Art Weltanschauung geworden. Es sei keine Persönlichkeitseigenschaft, so wie viele glauben.

Am Ende zeigt er auf, welchen Weg er gewählt hat, um sich aus einem zu hohen Anspruch an sich selbst zu befreien. Seine Lösung klingt im ersten Moment verblüffend einfach, dann aber ahnt man schnell, dass das nur ein längerer Prozess sein kann. Ein Weg aus Bewusst-Werdung, Selbst-Beobachtung und viel, viel Übung. Der Autor selbst ist diesen Weg gegangen und ein lebendiges Beispiel dafür, dass es gelingen kann.

Fazit und was ich für mich mitnehme:
Ein spannendes, wichtiges und lesenswertes Buch mit einem fokussierten Blick auf gesellschaftliche Normen und Werte, denen wir uns fraglos unterwerfen. Beim Lesen wird mehr als deutlich, dass Perfektionismus eine fatale Bewältigungsstrategie darstellt, die uns unter enormen Druck setzt und uns gleichzeitig nicht dient. Wir dienen vielmehr einer Wirtschaft, die auf permanentes Wachstum setzt und in deren Profitstreben wir lediglich ein kleines Rädchen im Getriebe sind.
Wir opfern unsere Gesundheit und Vitalität, beuten uns selbst, andere und den Planeten aus. Sich dem zu verweigern ist kein leichtes Unterfangen und wir werden dabei immer wieder Rückschläge erfahren. Das gehöre dazu und gilt es zu akzeptieren. Mich hat das Buch sehr nachdenklich gemacht. Ich kann es nur empfehlen zu lesen. Es öffnet einem wirklich die Augen.