Ein gut geschriebenes Buch mit einem außergewöhnlichen Konzept

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REZENSION: Niemalswelt

Prämisse:

Seit der feste Freund von Beatrice, genannt Bee, vor einem Jahr unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, hat sie mit keinem ihrer ehemaligen Freunde Kontakt, bis die fünf sich in Wincroft – einem noblen Wochenendhaus treffen wollen. In der ersten Nacht ihres Aufenthalts bauen sie beinahe einen Autounfall. Doch kaum zuhause angekommen, steht ein seltsamer Fremder auf ihrer Matte, der sich als „Der Wächter“ vorstellt und ihnen eröffnet, dass der Unfall tatsächlich geschehen ist welchen auch nur eine/r von ihnen überlebt hat. Wer ins Leben zurückkommen darf, soll per Abstimmung entschieden werden. Bis eine Einigung erzielt wird, sind die Freunde in der Niemalswelt gefangen, einer Zeitschleife zwischen Leben und Tod. Nachdem sie auch nach einer langen Zeit in der Niemalswelt nicht zu einer Entscheidung gekommen sind, beschließen sie, die Hintergründe von Jims Tod aufzuklären, was jedoch so manches Geheimnis ans Tageslicht zerrt.

Positives:

Zuerst einmal muss ich das Konzept von „Niemalswelt“, genauer der Niemalswelt ansich, loben. Die Vorstellung einer Zeitschleife zwischen Leben und Tod ist hochinteressant, und wird auch gut umgesetzt. Gerade psychologisch wirken die Reaktionen auf mich sehr nahbar, auch wenn ich natürlich keine Möglichkeiten habe dies in der Praxis zu überprüfen. Jede der Figuren geht auf ihre eigene Weise mit dieser Situation um, bevor sie sich fassen und ihre Nachforschungen beginnen. Des Weiteren ist auch die Niemalswelt an sich sehr interessant. Sie ähnelt der echten Welt, weist jedoch einige ungewöhnliche Anomalien auf.
Zu den Charakteren selbst, - auch sie empfand ich als sehr gelungen. Obzwar „Niemalswelt“ nicht länger als 380 Seiten ist gelingt es Marisha Pessl, Fünf – gewissermaßen sogar sechs - Charaktere zum Leben zu erwecken, von denen jeder gut ausgearbeitet und auf ihre eigene Art etwas exzentrisch sind und die sich von einander unterscheiden. Das mag zwar Trivial klingen, ist es jedoch nicht. Ein häufiges Problem von Büchern mit mehreren Charakteren, die ähnlich oder gleich stark im Fokus stehen ist, dass sie in Ermangelung von markanten Eigenschaften kaum auseinanderzuhalten sind, wodurch sie miteinander verschwimmen. Dieses Problem hat „Niemalswelt“ nicht.
Aber auch die Geschichte selber gefiel mir sehr. Marisha Pessl nimmt sich Zeit ihre Figuren, ihre Beziehungen untereinander und natürlich die Niemalswelt zu etablieren, verliert sich jedoch nicht darin sondern kommt angemessen schnell zum Hauptteil der Geschichte. Auch die Ermittlungen der Hauptcharaktere werden meiner Ansicht nach hervorragend in Szene gesetzt, wobei sie sich die Umstände der Niemalswelt zunutze machen.
Ich möchte an dieser Stelle auf etwas wichtiges hinweisen: Der Hauptfokus von „Niemalswelt“ liegt NICHT auf der Frage welcher der Freunde dem Tod von der Schippe springt, sondern auf dem offenlegen der Umstände von Jims Tod. Wer mit der Erwartungshaltung an dieses Buch herangeht, eine Art komplexes, psychologisches Todesspielszenario zu erleben, in welchem die Figuren sich unentwegt gegenseitig manipulieren und untereinander intrigieren, der wird von „Niemalswelt“ enttäuscht sein. Dies nur am Rande.
Ohne näher darauf einzugehen, - das Ende des Buches habe ich ebenfalls als sehr positiv wahrgenommen. Es ist stimmig, emotional und auch tiefgründig. Bevor ich zu dem meiner Auffassung nach stärksten Aspekt von „Niemalswelt“ komme, möchte ich noch eine kleine aber feine Nebensächlichkeit loben. Marisha Pessl kreiert in „Niemalswelt“ ein fiktives Buch namens „Das dunkle Haus an der Anderswokurve“ Dieses Buch spielt eine wichtige Rolle in der Geschichte und die Lore darum ist überaus faszinierend.

Aber der stärkste, der mit Abstand stärkste Aspekt von Niemalswelt, ist der Schreibstil. Ich habe schon viele Bücher von vielen Autoren gelesen, aber keines von ihnen besaß eine derart kreative Weise mit Worten umzugehen. Marisha Pessl verwendet sehr häufig ungewöhnliche Vergleiche um Figuren, Schauplätze und Emotionen zu beschreiben, findet aber auch andere kreative Wege. Hier eine kleine Kostprobe:

„Die Psyche ist fragil. Sie ist wie die Sandburg eines Kindes bei auflaufenden Wasser.“

„ Meine Gedanken verflüssigten sich und schwappten von innen gegen meine Schädeldecke.“

„Ich konnte sie stundenlang einfach so stehen lassen wie eine Schale mit Obst.“

Zudem gelingt es Marisha Pessl mithilfe ihres Stils – vor allem in der ersten Hälfte – eine ungewöhnliche aber gute Situationskomik zu erzeugen. Die beste Stelle des Buches ist meiner Ansicht nach jene, in welcher Beatrice, einen Monolog über das Wesen der Niemalswelt und ihre Auswirkungen auf die menschliche Psyche beschreibt. Diese Szene ist eine pure Demonstration der Möglichkeiten des geschriebenen Wortes. Sollte „Niemalswelt“ jemals verfilmt werden, wird es äußerst schwierig werden das Wegfallen dieses Schreibstils zu kompensieren.

Negatives:

Trotz aller soeben genannten positiven Punkte ist „Niemalswelt“ nicht perfekt. Mein erster Kritikpunkt ist, dass, die Rolle eines bestimmten Charakters ab einem bestimmten Zeitpunkt völlig offensichtlich ist, obwohl sich das Buch sehr darum bemüht diese Tatsache zu verschleiern. Des Weiteren muss ich auch über einen Aspekt des von mir eigentlich so hochgelobten Schreibstils sprechen. Dieser da ist: Manche Szenen wirken zusammengefasst oder heruntergebrochen, darunter auch das Finale des Buches. Und das finde ich wirklich zutiefst bedauerlich, da Marisha Pessl auf diese Weise viel Potential bezüglich Spannung und Intensität verschwendet. Dazu – am Rande erwähnt – hätte es meiner Ansicht nach eine bessere Möglichkeit gegeben, dass Verstreichen der Zeit und die subjektive Zeitwahrnehmung darzustellen, als es in „Niemalswelt“ getan wird. Nämlich folgende: In der „The Loop“ Trilogie wird ein zeitschleifenähnliches Szenario dergestalt dargestellt, dass der Protagonist den Ablauf der Ereignisse beschreibt und diese von Tag zu Tag mehr simplifiziert, bis sich seine Beschreibungen der letzten drei Tage auf folgendes beschränken:
„Das Gleiche von vorn.“ „Und noch einmal“. „Es nimmt einfach kein Ende.“
Es ist schade, dass „Niemalswelt“ etwas derartiges nicht getan hat.
Und zuletzt: „Niemalswelt“ tut etwas, dass auch viele andere aktuelle Jugendkrimis („Night of Lies. A Good Girls Guide to Murder, Dark and Shallow Lies, Nothing more to Tell“) tun, und dass mir in den wenigsten Fällen zusagt. Anstatt, dass einfach nur das Verbrechen aufgeklärt wird, stellt sich noch zusätzlich heraus, dass praktisch das gesamte Umfeld des Protagonisten irgendwelche „dunklen“ Geheimnisse hütet. Ich werde jetzt nicht näher darauf eingehen, was mich so sehr daran stört und ich finde auch nicht, dass es das gesamte Buch zerstört (von den oben genannten Büchern, würde ich jedem mindestens 3,5 von 5 Sternen geben und „Dark and Shallow Lies“ gefiel mir sogar überaus gut) des Weiteren ist es in diesem Buch noch akzeptabel, ich wollte es jedoch einmal erwähnt haben.


Fazit:

„Niemalswelt“ ist meiner Ansicht nach ein ausgezeichnetes Buch, welches trotz einiger kleinerer Schwächen mit seinem Schreibstil und seinem Setting zu überzeugen weiß. Und dafür vergebe ich 4,5 von 5 Sternen, welche ich auf 5 Sterne aufrunde.