Wunderbare Auszeit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
fraedherike Avatar

Von

„Nincshof ist das Dorf. Auf den ersten Blick, wie jedes Dorf, in keiner Weise besonders. Auf den zweiten, wie jedes Dorf einzigartig. Dass das Dorf nicht ist wie jedes andere, sieht nur, wer nähertritt. ... [Es] hat auch damit zu tun, … dass es einst sogar noch viel weniger so gewesen ist wie jedes andere Dorf. Wie genau es einst und ob überhaupt, das weiß, so die Natur einer jeden guten Legende, heute kaum jemand mit Sicherheit.“ (S. 5f)

Unweit der österreichisch-ungarischen Grenze befindet sich das kleine Dorf Nincshof. Geradezu idyllisch, könnte man meinen, obgleich ein Wort, kaum ausgesprochen, in jedermenschens Ohr erklingt, es folglich nicht möglich ist, gar keinen Grund dafür gibt, etwas geheim halten zu wollen. Und doch tut sich etwas, zwischen Schilf und Blätterrauschen: Früher, so heißt es in den Legenden, war Nincshof frei, seine Existenz kaum jemandem bekannt. Frei, das soll es wieder sein. Wie früher. Gemeinsam mit dem Dorfältesten und dem jungen Valentin schmiedet der Bürgermeister einen Plan: Nincshof soll vergessen werden, aus den Nachrichten, den Geschichtsbüchern, ja, von der Landkarte verschwinden. Vergessenwerden ist schließlich keine Straftat, nur ein bisschen nachhelfen wollen sie, die „Oblivisten“ – und dabei helfen soll ihnen Erna Rohdiebl. Mit ihren achtzig Jahren hat sie schon viel erlebt, aber die Idee, Nincshof zu vergessen, nein, selten ist ihr Dümmeres untergekommen. Andererseits… Sie möchte wieder etwas erleben! Allabendlich werkeln sie an ihrem Plan, und es könnte alles so einfach sein, wären da nicht die Neuen.

„Das Leben war ein Durcheinander, ein üppiger Strauß Wildblumen, in dem die schönsten und die giftigsten Blüten nebeneinander gediehen.“ (S. 325)

Seit ein paar Wochen wohnen Isa Bachgasser und ihr Mann Silvano Mezzaroni mit ihrer Tochter in der alten Mühle. Nachdem sie mit einer Panikattacke in der Notaufnahme aufwachte, legte ihr ihre Psychologin ans Herz, kürzer zu treten. Was sie nun brauche, seien Ruhe und Entschleunigung – fernab der Enge und dem Lärm Wiens. Aller Anfang ist schwer, denn anders als ihr Mann, der sich kurzerhand eine Herde Ziegen kauft und vollends in seiner neuen Rolle als Ziegenwirt aufgeht, findet Isa Bachgasser keinen Anschluss. Sonderbar sind die Leute und ihre Sitten, und was hat es mit diesem Schild auf sich, wer ist Martha E? Sie begibt sich auf Spurensuche, stößt jedoch bald auf Luftlöcher: herausgerissene Seiten, verschwundene Ortsschilder. Und dieses Schweigen. Was geht hier bloß vor sich?

„Ein gebrochenes Herz bleibt in dieser Welt niemandem erspart.“ (S. 332)
.
Ach, was hat mir diese Reihe nach Nincshof Spaß gemacht! Voller Zärtlichkeit und wärmendem Humor erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman „Nincshof“ die Geschichte eines ganz besonderen Sommerns für die Bewohner:innen eines kleinen Dorfes im Burgenland, dessen Existenz seit jeher auf Legenden fußt. Es geht um das Erinnern und Vergessen, um das, was im Leben zählt, um das, was Familie und Heimat, Glück für einen Menschen bedeuten. Nach und nach lernen wir die unterschiedlichen Bewohnerinnen kennen, allen voran Erna, eine alte Dame, die seit jeher in Nincshof wohnt. Einen jeden Morgen erinnert die erdrückende Stille sie daran, dass sie Witwe ist, einsam, ihr Leben ohne ihren viel zu früh verstorbenen Ehemann sinnlos. Von allen nur „die Neue“ genannt, sucht Isa Bachgasser, die als Regisseurin bereits einige Preise für ihre Filme gewonnen hat, nach einem Burnout Ruhe und hofft sie in Nincshof zu finden. Nach der Geburt ihrer Tochter hatte die Probleme, sich in der neuen Rolle als Mutter ein, in ihrem neu geformten Körper wiederzufinden, von einem Augenblick auf den anderen nur noch „Vieh im Molkereibetrieb“ (S. 272) zu sein, dem Urteil anderer ausgesetzt.
.
Es sind eben diese besondere Atmosphäre, die sich wie eine Glasglocke über einen wölbt und komplett aus der Gegenwart, hinein ins Dorfleben saugt, und die Ausgewogenheit, ja, der fließende Übergang zwischen heiteren, urkomischen Momenten und ernsten Themen, die die Autorin anhand der unterschiedlichen Biografien ihrer Protagonist:innen behandelt, die diese Geschichte so besonders machen. Lachte ich im ersten Augenblick über die schrullige Dreistigkeit Erna Rohdiebls, nächtens im Pool ihrer Nachbarn schwimmen zu gehen, wurden mir im nächsten die Augen feucht, als sie von ihren Verlusten erzählte, von ihren Kindern, ihrer Einsamkeit. Sie alle haben ihre Erfahrungen im Leben gesammelt, versuchen, eine bessere Mutter, Freundin, Ehefrau zu sein, die Stille zu besiegen, das Glück zu finden, vererbte Trauma zu überwinden, auch wenn sie dieses kribbelnde Unwohlsein nicht ganz verstehen. Ach, ich habe sie alle ungemein lieb gewonnen, Nincshof und seine Bewohner:innen, und diesen Sommer werde ich ganz sicher nicht vergessen!