Herausragend und zu Herzen gehend!

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marionhh Avatar

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Nach einem One-Night-Stand im Urlaub ist Janie Zimmerman schwanger und bekommt einen Jungen, Noah. Noah erweist sich schon früh als außergewöhnliches Kind, weiß Dinge, die ihm niemand beigebracht hat, er hat Alpträume, ruft nach seiner Mama und will nach Hause. Janie tut dies als Spinnereien eines sehr fantasievollen Jungen ab und fragt nicht weiter nach. Die Lage spitzt sich jedoch zu, als Noah vier Jahre alt ist, er will nicht mehr baden, schreit und weint viel und fragt ständig nach seiner „richtigen“ Mama. Janie begibt sich mit ihrem Sohn in Therapie, aber keiner kann ihr helfen. Ein Kinderpsychologe diagnostiziert gar Schizophrenie. Janie jedoch lehnt die Tabletten ab, die er ihr für Noah verschreibt, und bei ihren Recherchen stößt sie auf Dr. Jerry Anderson, der sich mit Kindern befasst, die Erinnerungen an ein vermeintlich früheres Leben haben und dies wissenschaftlich zu belegen versucht. Janie kontaktiert Dr. Anderson mehr aus Verzweiflung denn aus echter Überzeugung, und der Arzt, der unheilbar krank ist, verbeißt sich in seinen letzten Fall, um sein Lebenswerk zu Ende zu bringen. Zusammen begeben sie sich mit Noah auf eine Suche, die sowohl Janies als auch Dr. Andersons Einstellung und Wahrnehmung deutlich verändert und die sie oftmals an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt…

Ein außergewöhnliches, zu Tränen rührendes und sehr nachhallendes Buch, das man nicht aus der Hand legen kann und das einem im Gedächtnis bleibt. Die Autorin hat einen ungewöhnlich flüssigen, eingängigen und emotionalen Schreibstil, der einen sofort fesselt, der dabei weitab davon ist schnulzig zu sein, gehoben, aber sehr gut zu lesen (großes Kompliment auch an die Übersetzerin, die daran sicherlich auch einen großen Anteil hat!). Ihre Charaktere werden sehr intensiv und emotional beschrieben, durch die verschiedenen Perspektiven erhält man sehr tiefe Einblicke in das Seelenleben nicht nur der beiden erwachsenen Hauptfiguren Janie und Dr. Anderson, sondern auch in die der vermeintlichen Nebenfiguren wie zum Beispiel Charlie, Denise oder Paul. Von wirklichen Nebenfiguren kann man in Wahrheit nicht sprechen, denn alle Charaktere spielen eine wichtige Rolle, sind sehr vielschichtig in ihrer Persönlichkeit und entwickeln sich auch deutlich während der Geschichte. Die Herangehensweise an dieses oft belächelte, eher „übersinnliche“ Thema finde ich sehr gelungen, die Autorin nähert sich dem Thema behutsam an, lässt mehrere Meinungen zu und verurteilt nicht. Sie lässt dem Leser Zeit sich darauf einzulassen und sich selbst eine Meinung zu bilden. Die Auszüge aus echten Studien, zum Beispiel von Jim B. Tucker, lassen erkennen, dass dieses Gebiet durchaus wissenschaftlich erforscht wird, und sie tun ihr Übriges, um sich mit dem Thema näher zu befassen.

Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, am meisten natürlich aus Janies, mit der man von Anfang an mitfühlt. Ihre Gedanken und Gefühle werden sehr deutlich, sie zweifelt oft an sich als Mutter und an der Richtigkeit ihrer Entscheidungen, dennoch sind diese immer von ihrer überschäumenden Liebe zu Noah motiviert. Der Wunsch Noahs, seine andere, „richtige“ Mutter zu sehen, belastet sie sehr, und anfangs versucht sie dies zu verdrängen oder als Hirngespinst abzutun. Es spricht für sie und ihren Charakter, dass sie sich entgegen ihrer Überzeugung auf den Findungstrip einlässt, um Noah zu helfen. Nach ihren Reisen ist sie jedoch mit sich im Reinen, wohl auch dem geschuldet, dass sich Noahs Erinnerung mit dem Alter immer mehr reduzieren und ein „normales“ Leben möglich ist. Die Einstellung Janies spiegelt meines Erachtens die der größten Gruppe wider, die der Skeptiker, die sich ohne Not darüber keine größeren Gedanken macht. Wenn man dies aber tut und offen ist, kann man in dieser Überzeugung einen großen Trost finden.

Sehr berührt hat mich Dr. Andersons Leben und Charakter, auf der einen Seite sein analytisches Denken, auf der anderen seine Liebe zu seiner verstorbenen Frau und Sohn über den Tod hinaus. Er geht voll in seiner Arbeit auf, versucht Reinkarnation wissenschaftlich zu belegen und nimmt dabei auch die Verachtung seiner Professorenkollegen in Kauf. Als er alleine ist, verbeißt er sich noch mehr in die Arbeit, bis die Diagnose Aphasie ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Nach und nach verliert er sein Sprachvermögen, vergisst Wörter, Namen, kann sich an immer weniger erinnern. Die Art und Weise, wie sein Leben endet, ist eine logische Konsequenz aus seiner Überzeugung und der Liebe zu seiner Frau, und Dr. Anderson kann dem Tod sogar mit wissenschaftlicher Neugier begegnen. Dies wird so einfühlsam beschrieben, dass der Tod tatsächlich seinen Schrecken verliert.

Die Perspektivwechsel kamen mir manchmal recht abrupt vor, das lag daran, dass ich so intensiv in die vorangegangene Person eingetaucht war und mich nur schwer lösen konnte. Dann kam man aber wieder schnell in die neue Figur hinein, es wird sehr schnell klar, dass auch diese Person eine wichtige Rolle in Noahs Leben spielt. Man erfährt sehr viel über das Leben der Personen und kann so die Handlungen und Entscheidung sehr gut nachvollziehen. Alle berühren einen in irgendeiner Art und Weise und man zollt ihnen Respekt, wie sich selbst reflektieren und ihre Einstellung überdenken und letztlich ihr Leben meistern, wie etwa Paul, der mit seiner Schuld leben muss, oder Denise, die, ebenfalls entgegen ihrer Überzeugung, sich auf Noah einlässt, verzeihen kann und ihr Leben wieder in den Griff bekommt.

Fazit: Ein Buch, das sich zu lesen lohnt! Obwohl thematisch heikel, wird es auch für Skeptiker zum echten Pageturner aufgrund des herrlichen Schreibstils, des fundierten Hintergrundwissens und der einfühlsamen, offenen Herangehensweise der Autorin. Ihre Charaktere sind stark und vielschichtig und zusammen mit der Geschichte hallt das Buch lange nach und zwingt zum Nachdenken. Vordergründig natürlich ein Buch über Reinkarnation, ist es vor allem ein Buch über die Liebe in allen Varianten, besonders die, die über den Tod hinausgeht. Übrigens finde ich auch das Cover sehr gelungen und einen echten Hingucker, das Haus scheint wirklich hell erleuchtet durch die gelbe Innenseite und wirkt sehr heimelig. Der deutsche Titel ist sehr treffend und einprägsam, der englische („The Forgetting Time“) erschloss sich mir leider nicht, aber das mag Muttersprachlern anders gehen. Ein sehr gelungenes Debüt von einer tollen Autorin mit hohem Wiedererkennungswert, von der wir hoffentlich noch mehr lesen werden!