intensiv, greifbar, wissend

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gracejones Avatar

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Erstaunlich ist, dass ein Buch, welches den Tod zum Thema hat, so voller Leben ist, dass es fast schon weh tut. So zumindest scheint "Noir" nach meinem ersten Eindruck zu sein.
Wir befinden uns immer in der unmittelbaren Gegenwart, erleben das Buch am Puls seiner eigenen Zeit und der Zeit seines Protagonisten Nino. Der zweite Prolog "Sterben" wirft uns mitten hinein in eine Alltagssituation. Umso schmerzhafter ist die Erfahrung, da wir wissen, dass diese Szene mit Tod enden wird. Wir erleben förmlich von der Rückbank des Unfallautos aus wie Ninos Eltern miteinander über Kleinigkeiten streiten. Wir erfahren ihre Gefühle, die Gedanken, die sie gerade beschäftigen, werden mitgenommen in Ninos Gedanken, die Gedanken eines Fünfjährigen. Und fiel zu schnell fühlen wir uns zu Hause in diesem Moment, sehen mit Nino durch das Fenster des Autos, fühlen uns in die Konflikte der Eltern hinein. Da ist die Tochter, Vegetarierin und vermutlich Lesbe und am Schlimmsten: Gerade ausgezogen und eben erst erwachsen geworden. Und plötzlich erschrickt man selbst vom Aufprall der auf die Windschutzscheibe geschleuderten Person, sieht Ninos Eltern durch seine Augen in Glassplittern sterben. Die Erinnerung an die gerade gelesenen Momente der Alltäglichkeit schmerzt.

Schnitt auf den erwachsenen Nino. Gemeinsam mit ihm befinden wir uns in einer Art moderner Unterwelt. Partygewölbe voll grünem Licht und Lärm, Drogen, zwielichtige Menschen, unwissenden Mädchen. Jedes Detail brennt sich einem ins Gedächtnis, durch die sensible Erzählweise, den Blick auf das kleinste und unbedeutenste Teil des Ganzen. Man hört die Musik, man riecht den muffigen, beißenden Geruch tanzender, schwitzender Menschen und man sieht, sieht vor allem, klar, deutlich und gestochen scharf. Und immer wieder, bei den unbedeutendsten, kleinsten Berührungen ein Blitz: Der Tod. Nino weiß reflexartig wann jemand stirbt. Manchmal auch woran. Wir erfahren dies alles nüchtern, als Tatsache. Und uns wird schlagartig bewusst, dass dies tatsächlich Tatsachen sind. Erschreckend. Unabänderlich.

Es fällt schwer mit Nino Schritt zu halten. Der intensive, pulsierende Schreibstil zieht den Leser so rasch und erbarmungslos ins Geschehen, dass kaum Zeit bleibt sich mit den Gegebenheiten der Erzählwelt zu arrangieren. Für Nino ist das Wissen um den Tod nichts Neues. Für den Leser schon. Man sieht den Personen, die Nino begegnen und deren Tod er vorhersieht im Romangeschehen förmlich nach, will sie fassen, begreifen, was für Ausmaße diese Erkenntnis hat, aber dafür bleibt keine Zeit.

Und letztendlich sind da auch noch die Geheimnisse im Hier und Jetzt: Wer ist Monsieur Samedi und die dunklen Gestalten, die ihn umgeben? Und was geschieht überhaupt mit einem Menschen, mit Nino, mit uns selbst, wenn man die Umstände des Todes im Voraus kennt?

"Noir" beschäftigt sich mit einem der größten Mysterien der Welt. Manche fliehen vor der Tatsache, manche fürchten jeden Schritt auf dem Weg und manche versuchen nicht daran zu denken. Alle jedoch beschäftigt die Angst vor dem Tod und der Frage "Wie lange noch?".
Innerhalb dieses Mysteriums bewegt sich Nino. Was wird er auf seiner Reise entdecken?