In geheimer Mission

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hybris Avatar

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„Er hat zwar vor, morgen jemanden zu ermorden, aber er wird keine Drinks aus einer Selbstbedienungsbar stehlen.“

Dieser Thriller ist im Kern ein Roman über starke Frauen. Die Handlung findet in Nordirland mit Beginn in den Nullerjahren (gegen Ende auch in der Republik Irland) statt.

Worum geht’s?

Die allerziehende Tessa ist Produzentin von politischen Radiosendungen beim Belfaster BBC – Ableger. Ihre Mutter und ihre Schwester Marian hüten ihr Söhnchen Finn, wann immer es nötig ist. Zu ihrem Exmann Tom hat sie kein enges Verhältnis mehr. Marian ist Sanitäterin, die Mutter der Schwestern arbeitet als Reinigungskraft.
Als die britische Polizei Tessa zu Marians angeblicher IRA – Mitgliedschaft befragt, fällt Tessa aus allen Wolken. Ihre friedliebende Schwester soll eine Terroristin sein?! Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit…

Tessa ist eine Ich - Erzählerin, die den Leser mit ihrem Bericht absolut fesselt. Der Roman ist durchweg spannend, die Erzählweise der Autorin gefiel mir gut. Man sollte jedoch keinen Thriller erwarten, bei dem es Schlag auf Schlag geht. Richtige „Action“ gab es erst, nachdem ich circa sechzig Prozent des E-Books gelesen hatte. Besonders gut gefiel mir die Figurenzeichnung – ein Kleinkind ist ein absolut glaubwürdiger Protagonist, die Autorin beschreibt die Mutter – Kind – Beziehung intensiv, aber völlig kitschfrei. Der Stil kann überzeugen, auch wenn es Wortwiederholungen wie „großartig“ und Sätze wie „Wir lebten auf einem Pulverfass“ gibt.
Der Thriller ist im Prinzip ein Kommentar zum Nordirlandkonflikt, die Autorin setzt ein gewisses Vorwissen voraus, ihre Beschreibung der Ereignisse ist jedoch fast ein wenig ahistorisch – die Troubles und das Karfreitagsabkommen aus dem Jahre 1998 werden erwähnt, und doch könnte der Handlungsverlauf mit den kriegsähnlichen Zuständen aus der heißen Phase des Konflikts stammen. Bekannte Schlagworte werden genannt, etwa die „große Hungersnot“. Außerdem fiktionalisiert die Autorin das Bombenattentat auf Lord Mountbatten aus dem Jahr 1979 und verlegt es aus dramaturgischen Gründen sozusagen in die Zukunft (es ist natürlich nicht Mountbatten der im Roman stirbt, aber für mich ist es fast lazy writing). Das wäre alles kein Problem, wenn „Northern Spy - Die Jagd“ (der Titel ist zugleich Wortspiel und Spoiler) ein Fantasyroman wäre. Die Autorin liefert wie gesagt Erklärungsansätze, die nicht ganz falsch sind – ökonomisches Ungleichgewicht, konfessionelle Spannungen, Diener und Herren, protestantische und katholische paramilitärische Gruppen werden angeführt. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem MI5 und der IRA ist ein Grundpfeiler der Geschichte. Die Autorin benennt das Hauptziel der Terroristen („Ein Vereinigtes Irland, die Demokratische Sozialistische Republik Irland, wird dann ein Stück näher gerückt sein.“).
Dennoch ist das Ganze für meinen Geschmack nicht detailliert genug, man kann nach der Lektüre leicht einen nicht ganz richtigen Eindruck gewinnen, daher sollte man den Roman keinesfalls als geschichtswissenschaftliche Quelle nutzen. Protestantische Terrorgruppen und deren Ziele kommen nur am Rande vor. Für mich hat es auch ein „Geschmäckle“, dass eine amerikanische Autorin einen in Europa angesiedelten Nordirland-Thriller verfasst hat, den sie als leidenschaftliches pazifistisches Plädoyer präsentiert. Die Atheistin Tessa lehnt im Gegensatz zu ihrer Mutter Religion ab, dazu passt, dass moralisch verkommene Priester im plot auftauchen. Einerseits verurteilt die Autorin (völlig zu Recht) die Glorifizierung von Gewalt, andererseits lässt sie ihre Protagonistinnen am Ende blutbesudelt und barfüßig durch die winterliche Landschaft rennen.
„Northern Spy“ ist jedoch eine durchweg spannende dreiteilige Geschichte. Der erste Teil wirkt dabei wie eine ausführliche Exposition. Der Finalteil mündet in einem spektakulären Showdown mit regelrecht kinotauglichen Szenen – ob die Autorin wohl schon mit einer Verfilmung liebäugelt? Irgendwie erinnert das Ganze auch weniger an europäisches Autorenkino & mehr an einen Hollywoodfilm.

Fazit:

Zu Beginn war „Northern Spy“ für mich ein absoluter 5-Sterne-Kandidat, da die Autorin es versteht, auf ruhige Art & Weise und ohne Effekthascherei Spannung zu erzeugen. Ich hätte mir jedoch eine differenziertere und detailliertere Analyse von ‚Land und Leuten‘ gewünscht und es kann sicher nicht schaden, im Anschluss an die Lektüre ein Handbuch zum Thema ‚Ursprung und Verlauf des Nordirlandkonflikts‘ zu lesen.