Manche Bücher treffen halt genau da, wo es noch lange nachklingt
Rosa ist verloren. Sie lebt zu Beginn der Geschichte in London, muss dann aber zurück in ihre Heimatstadt Wuppertal, um die Angelegenheiten für ihre an Demenz erkrankte Großmutter zu regeln. Denn Rosa ist die letzte Angehörige. Ihr Großvater verstarb bei einem Motorradunfall und ihre Mutter... Conny... Ja, Conny. Conny wurde viel zu früh schwanger und starb dann ebenfalls viel zu früh, mit gerade 29 Jahren. Und jetzt wird Rosa 30, "älter als Conny je sein wird" und geistert durch ihre Heimatstadt, sowie ihre Erinnerungen an früher, früher als sie noch eine Mutter hatte, früher auf dem Internat, auf dem Internat in dem schon davor Conny war. Und so verschwimmen Rosas Geschichten mit den Geschichten von Conny, gehen nahtlos ineinander über, verlieren sich in der Vergangenheit um dann wieder in die Gegenwart zurück zu schnellen. Wir Leser begleiten Rosa bei ihrem Versuch etwas Reales, etwas Greifbares aus der längst vergangenen, längst vergrabenen, längst abgerissenen Zeit zu fischen. Dabei wählt Emily Marie Lara unglaublich poetische Worte, reiht mit Geschick Sätze aneinander wie Lyrics, wie Poesie und erschafft so ganze Passagen, die vorgetragen bei einem Poetry Slam dem Publikum die Tränen in die Augen treiben würde. Diese Passagen wiederum ergeben ein Psychogramm, eine Momentaufnahme, ein Snippet eines Lebens, das an seinen Rändern von der Vergänglichkeit der Existenz zerfasert wird. Dabei versucht unsere Protagonistin Rosa händeringend ihr Selbst zusammenzuhalten. Es war wunderschön und unglaublich schmerzhaft, dieses Buch zu lesen. Bittersüß. Ich wollte Rosa schütteln und in den Arm nehmen, ihr den Weg zeigen. Aber den Weg wohin? Sind wir nicht auch alle irgendwie lost zwischen Nostalgie, Kippen & Songtexten? Das Buch ist fordernd, keine Frage. Lange Sätze die Rosas Gedankenspiralen aufzeigen und einen mit ihr hinunterziehen. Da muss man manchmal auch nochmal lesen, wo man sich da gedanklich gerade gemeinsam mit der Protagonistin aufgehangen hat. Langsam um alles aufzunehmen. Rosas Gedanken? Sind stellenweise wie der Nebel, der Morgens langsam aus dem Tal über die Hänge wandert. Hier und da blitzt etwas auf und manches sieht man erst, wenn es fast zu spät ist und man rein rennt. Rosas Leben? Ziemlich verbockt. Rosas Bewältigungsstrategie? Mindestens fragwürdig bis hochgradig toxisch. Ich empfand es als extrem bedrückend zu erleben wie es sein kann ohne Anker, ohne Menschen die einen halten, lieben und erden. Und auch wenn es so, so schmerzhaft war zeigt das Gefühl nur dass das Buch so, so gut ist. Ich fühlte mich beim Lesen einfach wie Rosa, während ich mit ihr durch die Gassen lief, während wir gemeinsam von Ikea den Berg runter nach Hause stolperten und uns fragten, was zu Hause überhaupt bedeutet. Und aus meiner Sicht gibt das Buch darauf auch ganz bewusst keine konkrete Antwort. Das muss jeder für sich selbst definieren. Es beginnt, es ist auf poetische, wunderschöne Weise Melancholie gegossen in Worte, wirft existentielle Fragen auf und entlässt uns dann nach einer Weile wieder nach Luft schnappend in unsere individuelle Lebensrealität. Die Fragen fest im Herzen, ohne Antwort, mit etwas zum Nachdenken. Und genau das macht für mich ein gutes Buch mit Substanz aus. Man nimmt etwas mit, es bleibt ein Stück zurück. Klar ist es auch mal schön, alles vorgekaut zu bekommen. Aber die richtig guten Autor:innen trauen ihren Leser:innen Eigeninterpretation zu, trauen den Leser:innen zu, sich Gedanken zu machen und selbst Dinge weiterzuspinnen. Die Leser:innen mit in den Alltag der Figuren zu nehmen und damit zu einem Teil ihrer Gedankenwelt zu machen. Ich für meinen Teil werde auf jeden Fall noch des öfteren ein Echo von Rosas Gedanken mit mir tragen.