Aufbruch und Ankommen

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Benjamin Myers' Roman "Offene See" handelt von Robert, einem sechzehnjährigen Jungen, der kurz nach dem zweiten Weltkrieg seine Heimat, ein beengendes, armes Bergarbeiterdorf, verlässt. Er begibt sich auf eine Reise - seine Ziele sind: Freiheit und das Meer. Nach Wochen von Arbeit und Wanderung trifft er auf Dulcie, eine Frau, die ihn in ihrem Cottage aufnimmt. Sie bringt ihm eine ganz neue, unkonventionelle Denkweise nahe und weckt seine Leidenschaft für die Poesie. Als Robert jedoch bei der Arbeit in einer verwahrlosten Hütte ein Manuskript mit Gedichten findet, dass Dulcie gewidmet ist und sie danach fragt, reagiert die sonst so offene Frau abweisend. Nur ganz langsam taut sie auf und weiht Robert in eine besondere Geschichte ein...

Das Cover gefiel mir aufgrund der schlichten, aber perfekt zur Geschichte passenden Farbgestaltung sofort. Diese fängt die entspannte, aber mysteriöse Stimmung des Romans auf wundersame Weise ein.

Diese Stimmung, die ich beim Lesen des Buchs empfunden hatte, zeigt sich auch im Spannungsaufbau. Das Buch braucht kein Hinfiebern auf ein fulminantes Finale und auch keinen plötzlichen, den Leser aus der Fassung bringenden Plot Twist. Nein, die Geschichte hält eine besondere Magie inne, die einen fesselt.

Sie entsteht durch die authentischen Charaktere, die tiefgründige Geschichte und den Schreibstil.

Man interessiert sich für die Geschichten der Charaktere, und wird durch den poetischen Schreibstil des Autors mit Robert in eine Welt gezaubert, in der ein sechzehnjähriger Junge in der Nachkriegszeit sich auf eine Reise begibt, die jeden von uns beschäftigt. Er lässt seine einengende Heimat hinter sich und entdeckt die Natur, das Leben und Freundschaften neu. Er findet seine Liebe zur Literatur, zur Freiheit und zu den kleinen Dingen. Und er entdeckt Fähigkeiten, Vorlieben, Stärken, die in ihm geschlummert haben, und wird klüger und reifer. Das, was wir heute so gerne Selbstfindung nennen und von dem wir so fasziniert sind.

Auch Dulcie ist einem auf Anhieb sympathisch. Ihre amüsante, unkonventionelle Art und ihre Weisheit macht sie zu einem Menschen, von dem man selbst gerne lernen würde. Sie weiß, wie man das Leben genießt, und hat dazu einen empathischen, tiefgründigen und offenen Charakter. Ebenso schnell, wie sie Robert in ihr Cottage aufnimmt, nimmt man sie als Leser in sein Herz auf. Als Robert auf das Manuskript stößt und herausfinden will, was in Dulcies Vergangenheit geschehen ist und seitdem auf Dulcies Seele lastet, wird der Leser genauso wie Robert in den Bann der Gedichte gezogen, die langsam offenbaren, was damals geschehen ist.

Der Autor hat eine beeindruckende Menschenkenntnis, die sich in den facettenreichen, aber doch ein stimmiges Bild ergebenden Persönlichkeiten der Figuren zeigt. Immer wieder offenbaren sich dem Leser neue Charakterzüge von Robert sowie von Dulcie, die ihn zuerst überraschen, aber dann doch perfekt passen, was die Charaktere so authentisch machen.

Vor dem Hintergrund der Nachkriegszeit zugleich ernst, durch Roberts schlichtes, ruhiges und achtsames Wesen entspannend und durch Dulcies Sarkasmus sogar amüsant - so vielfältig war der Schreibstil des Autoren. Die schlichte Poesie der Worte des Autoren macht die Geschichte erst so lebendig und erfrischend. Die viele Zeit, die Robert in der Natur verbringt, fühlt sich beim Lesen genauso entspannend an, wie wirklich draußen zu sein, und weckt Sehnsucht auf einen langen Spaziergang, wie sie auch Robert regelmäßig macht.

Generell fand ich das Buch nicht nur schön zu lesen und war begeistert von dem Tiefgang der Charaktere, ihrer Entwicklung und der Geschichte, es war auch sehr lehrreich.
Das Buch berichtet davon, wie zwei Menschen in der eigentlich grauen und trostlosen, von Hunger geprägten Nachkriegszeit ihr Leben genießen - durch das Wertschätzen der kleinen Dinge. Gutes Essen, Sonne, abendliche Bäder im Meer, die Vielfalt der Natur, frische Luft, Abende, die man mit seinen Liebsten verbringt, Arbeit im Freien, die Schönheit von Gefühlen und von Verzeihen, tiefgründige Gespräche, all das wird im Buch wichtig, und das ist auch heute noch besonders, wenn man es bewusst genießt.
Außerdem weckt das Buch mit seinen berührenden Gedichten Lust auf Poesie und stimmt den Leser nachdenklich.

Ich kann "Offene See" wärmstens empfehlen, am besten zu genießen auf Dulcie- Art: In der Sonne im Garten mit einem Honigbrot in der Hand (Dulcie ist nämlich Imkerin, aber was genau es damit auf sich hat, steht im Buch ;) )