die Macht eines Sommers

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katma Avatar

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„Dieser ferne Streifen Meer, wo Himmel und Wasser eins werden.“

"Offene See" ist ein schmales Büchlein voller starker Worte und einer einfachen Geschichte. Man könnte es auch in die Coming-of-Age-Sparte stecken aber das würde dem Buch nicht gerecht werden.
Die Geschichte spielt kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges und wird im Rückblick erzählt. Der Schreibstil ist ruhig, poetisch, klar und dabei doch präzise und modern. Und genauso ist die Handlung: Man begleitet Robert ein Stück auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Sein Leben scheint vorgezeichnet zu sein aber manchmal ändern sich die Dinge eben. Robert begeistert sich für die Stille, für mit Mythen beladene Orte. Und so unternimmt er, kurz bevor er in des Vaters Fußstapfen tritt, eine Reise, die ihn zu Dulcie führt, einer emanzipierten, starken und doch tieftraurigen älteren Frau. Ihr Einfluss wird ihm helfen, sich zu dem Mann zu entwickeln, der in ihm steckt. Er wird die Lyrik entdecken, ein unkonventionelles Leben kennenlernen und seinen Horizont erweitern.

Benjamin Myers spricht auf wenigen Seiten sehr viele verschiedene Themen an: Zunächst ist da natürlich der 2. Weltkrieg, der in den Köpfen der Menschen auch 1 Jahr nach seinem Ende alle Gedanken beherrscht und dessen Verarbeitung noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.

"Denn niemand gewinnte einen Krieg wirklich, manche verlieren bloß ein bisschen weniger als andere."

Dann ist da die wundervolle Natur, die Bienen, das geliebte Haustier und wie all das zur seelischen Heilung beitragen kann.

"Weil Honig flüssige Poesie ist. Er ist wie ein Scheibchen Sonne auf deinem Brot. Er ist die Essenz der Natur - die Essenz von Land und Insekt und Mann oder Frau, die in vollkommener symbiotischer Harmonie zusammenarbeiten. Bienen sind wahre Wunderwesen, die unermüdlich Pollen in Gold verwandeln."

Das Meer wird in seiner Zwiegespaltenheit dargestellt - ist es nun wunderschön, anziehend und ein Sehnsuchtsziel oder abstoßend, kalt und gefährlich? Und schlußendlich geht es um die Kraft der Freundschaft und was sie bewegen kann. Beschreibungen und Handlung halten sich dabei immer die Waage.

"Reisen ist die Suche nach sich selbst. Und manchmal genügt es schon alleine das Suchen."

Beide Protagonisten sind mir sofort ans Herz gewachsen, das ist auch eher selten. Dulcie wird durch ihre Schlagfertigkeit, ihre burschikose, einnehmende Art sofort symphatisch während Robert mit seinem stillen, scheuen, fleißigen Charakter punktet. Die beiden sind ein seltsames Paar. Die Interaktionen der Beiden sind schön zu verfolgen.

„Du redest nicht viel, und das gefällt mir. Im Schweigen liegt Poesie, aber die meisten nehmen sich nicht die Muße, sie zu hören. Sie reden und reden und reden, aber sie sagen nichts, weil sie Angst davor haben, ihren eigenen Herzschlag zu hören. Angst vor ihrer eigenen Sterblichkeit.“

"Offene See" ist zu einem meiner Lieblingsbücher bisher in 2020 geworden. Ich möchte es immerfort an meine Brust drücken und mit mir herzumtragen. Die Geschichte hat mich sehr berührt und das gerade ohne eine turbulente Handlung sondern nur mit der Kraft der Worte zu schaffen, ist für mich der große Verdienst dieses Buches.