Eine Ode an das Land

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Es erinnert daran, dass nichts von Dauer ist. Alles ist im Fluss. Und die Natur trägt immer den Sieg davon.
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs macht sich der 16-jährige Robert auf den Weg. Er hat Sehnsucht - nach dem Land, nach der Natur, aber vor allem nach dem Meer. So beginnt er eine gemächliche Wanderschaft, die ihn eines Tages an das Cottage der exzentrischen Dulcie Piper führt. Dort probiert er nicht nur das erste Mal in seinem Leben Hummer und Brennnesseltee, sondern entdeckt auch seine Leidenschaft für die Literatur. Doch die Stimmung wird angespannter, als er in Dulcies verfallenem Atelier ein Manuskript entdeckt, das ihr gewidmet ist.

Benjamin Myers lässt seinen Roman in einer Zeit spielen, in der Trauer und Unsicherheit das Leben der Menschen beherrschten. Ein besseres Setting für einen Coming-of-Age-Roman gibt es wohl kaum, denn auch Robert ist sich mehr als unsicher, was seine Zukunft anbelangt. Er lebt in einer rußigen Bergarbeiterstadt in Nordengland, und von ihm wird stillschweigend erwartet, dass er seinem Vater in die Zeche folgt. Diesem Schicksal will er noch für einige wenige Wochen entfliehen und macht sich nach dem Schulabschluss auf den Weg - wohin, das ist nicht so wichtig. Hauptsache, am Ende kommt er ans Meer, denn das kennt er nur als dreckig-schlierige Masse aus der Hafenstadt. Traumschöne, poetische Bilder beschwört Myers da herauf, wenn der Junge ganz arglos unter Brombeerbüschen schläft und Handlangerarbeiten ausführt für Kost und Logis. Eine tiefe Ruhe kommt dabei über die Leserin, und das unbedingte Verlangen, frische Luft zu atmen und die Vögel singen zu hören. Der erschreckende Gegensatz dazu sind die düsteren, stickigen, erdrückenden Kohlegruben, die wie ein Gespenst immer in Roberts Nacken sitzen.

Als Robert dann eines Tages vor Dulcie Pipers Tür steht, findet seine Wanderschaft ein sanftes Ende. Immer mehr Zeit verbringt er mit der alten Dame, findet immer neue Arbeiten, die erledigt werden müssen, und so zieht der Sommer ins Land. Jeden Tag kann er im Meer schwimmen und unter Dulcies Obhut unglaubliche Köstlichkeiten probieren, die sie trotz Lebensmittelrationierung irgendwie beschaffen konnte. Dulcies Cottage und der umliegende Wildwuchs erscheinen wie der Garten Eden - Robert kommt dort zu Ruhe, und nichts zieht ihn mehr von dort fort. Und auch Dulcie genießt seine Anwesenheit sichtlich, auch wenn sie das so nie ausdrücken würde.

Mit Dulcie kommt auch das Erwachsenwerden in Roberts Leben. Sie lehrt ihn vieles, ohne dass er es wirklich mitbekommt, vermittelt schöne Weisheiten, aber auch derbe Wahrheiten. Sie gibt ihm Bücher und Gedichte zu lesen, erzählt ihm von ihrem bewegten Leben - bis Robert ein Manuskript findet, das Dulcies Geliebte ihr gewidmet hat. Nach und nach bricht Dulcies Schale und sie offenbart sich.

Aber genau hier ist der winzige Haken an diesem sonst so formvollendeten Buch: Dulcies Liebes- und Lebensgeschichte ging mir nicht nahe. Das Schicksal von Romy, der Geliebten, erschien mir zu gekünstelt, zu dramatisch inszeniert, um wirklich an mein Herz zu rühren. Und auch Dulcie selbst spricht mir manchmal zu sehr in weisen Sprüchen. Nichtsdestotrotz ist sie eine interessante und witzige Dame, die kein Blatt vor den Mund nimmt und einiges im Leben erfahren hat. Ich hätte sie gerne noch besser kennengelernt, aber Robert kann natürlich nur aus seiner ganz persönlichen Sicht erzählen.

Bei der Erzählperspektive hat der Autor außerdem einen guten Kniff angewandt: Robert schreibt als alter Mann seine Erlebnisse aus jungen Jahren auf - der Blickwinkel ist reifer, er konnte die Dinge schließlich über Jahrzehnte hinweg durchdenken und die richtigen Worte dafür finden. Hätte er schon im zarten Alter von 16 oder 17 Jahren diese Erfahrungen aufgeschrieben, dann wären sie sicherlich nicht so eloquent dahergekommen. Das hat mir gut gefallen. Zudem zeigt es auf leise und berührende Weise, dass Robert Dulcie ein Leben lang verbunden geblieben ist, und dass die Erlebnisse dieses Sommers wirklich sein ganzes Leben bestimmt haben.

Benjamin Myers nimmt die Leserin mit auf eine stimmungsvoll-poetische Reise durch die schöne Landschaft Nordenglands und in die Vergangenheit einer alternden Exzentrikerin, die kein Blatt vor den Mund nimmt und damit immer wieder für ein Schmunzeln sorgt. Robert entwickelt sich vom naiven Jungen zum selbstbewussten jungen Mann, der seinen Weg geht, ungeachtet aller Erwartungen und Konventionen. Und das alles in einer Zeit, in der weder lesbische Liebe noch elternunabhängige Selbstverwirklichung zum gesellschaftlichen Standard gehörten. Und obwohl Zeit und Raum den ausschlaggebenden Rahmen für die Geschichte bilden, wird Myers an keiner Stelle zu politisch oder gar moralisierend - im Gegenteil, es ist eine universell gültige und verständliche Geschichte über die Zauberhaftigkeit der Natur und die Wichtigkeit menschlicher Zuwendung. Ein wirklich schönes Stück Literatur!