Empathie, Poesie, Historie - ein absolutes Jahreshighlight!

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lefra Avatar

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Ein Debutroman wie man ihn selten bekommt! Benjamin Myers gelingt mit „Offene See“ ein grandioser Start in die Literaturwelt, indem er Poesie, Empathie und Historie vereint.

Ohne großes Aufheben beginnt Robert, der Sohn einer Familie von Minenarbeitern, eine Wanderung. Sein Ziel das klare Wasser des Meeres sehen bevor die Minen Nordenglands ihn verschlucken. Im Gepäck nur das, was er am Leibe trägt.
„Es war ein Akt der Befreiung und Rebellion, doch die Fesseln des alten Lebens waren noch immer so festgezurrt, dass ich mich fragte, ob meine Wanderung lediglich eine Galgenfrist war, ein erstes und letztes Hurra vor der düsteren Aussicht auf den Ernst des Lebens. Ich musste wenigstens versuchen, eine andere Welt zu sehen, bevor die Kohle – oder schlimmer noch der Krieg – gänzlich von mir Besitz ergriff.“
Und dann begegnet er der unkonventionellen Dulcie, die ganz allein in einer Hütte am Meer lebt und ihm einen völlig neuen Blick auf das Leben eröffnet. Eine schicksalhafte Begegnung.

Der absolute Catch dieses Buches ist ganz klar die Sprache. So einfach, präzise und modern die Formulierungen sind, sind sie doch von solcher Tiefe und entführen nicht nur in eine andere Zeit und einen anderen Ort, sondern auch in die Gedanken der Protagonisten. Jeder Satz wirkt gleichzeitig gut durchdacht und mühelos.
Aus der Perspektive vom jungen Robert wandert der Leser mit ihm, nimmt alle Eindrücke mit ihm gemeinsam auf und trifft schlussendlich mit ihm auf Dulcie. Die Frau, die sein Leben verändert und dem Leser auch lange nach Beenden des Buches im Kopf bleiben wird. Eine starke, emanzipierte Frau, die ihrer Zeit weit voraus war, sich stets treu blieb und dennoch so viel Herz in andere investierte. Roberts Entwicklung im Laufe des Romans ist faszinierend vom stillen, scheuen Burschen hin zu einem starken, wissbegierigen Erwachsenen.

„Diese Fixierung auf die Mädchen in der Bucht weckte in mir den Wunsch, so schreiben zu lernen, dass ich Gedichte an sie alle verfassen könnte, und diese Gedichte würde ich dann zusammengefaltet in die Spalten der Felsen stecken und abwarten, bis die Flut sie erreichte, die Tinte vom Papier wusch, aus dem Papier allmählich Brei wurde, der Brei sich zu der anderen vergehenden Materie in der großen schiefergrauen Suppe gesellte, und dann – erst dann – würde ich den Mut haben, ihnen zu sagen, dass großartige Geschichten über sie geschrieben worden waren, doch um diese lesen zu können, müssten sie lernen, das Meer zu lesen. Wenn sie dann diese Worte hörten und meine ehrlichen Absichten verstanden und die Poesie einer derart romantischen Geste erkannten, vielleicht würden sie sich dann rettungslos in mich verlieben.“

Ein Buch, dass vollständig unerwartet kommt, weil eben nicht die erwartete 0815 Liebesgeschichte und einen dann aus heiterem Himmel umhaut. Das Highlight des Jahres!