Moderner und liebenswerter "Taugenichts"

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emma winter Avatar

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Schon die ersten Zeilen des ersten Kapitels von Myers Roman haben mich an Eichendorffs "Taugenichts" erinnert und dann entfaltet sich eine ähnliche und doch ganz andere wunderbare Geschichte:

Der 16-jährige Robert möchten das Leben jenseits seiner nordenglischen Heimat, einer grauen Stadt geprägt durch den Kohleabbau, kennenlernen. Er macht sich auf die Wanderschaft und bleibt schließlich bei der schon nicht mehr ganz so jungen Dulcie und ihrem Schäferhund Butler hängen. Mental und physisch ausgehungert, päppelt Dulcie den Jungen auf, ohne ihn zu bevormunden. Eine wunderbare Freundschaft entwickelt sich, mit Blick auf die offene See.

Die Geschichte beginnt mit Robert, der sich als alter Mann an seine Jugend erinnert. Diese kleine Rahmenhandlung umklammert die Geschichte am Anfang und am Ende.

Es gibt so viele Parallelen zu Eichendorffs bekanntem Werk. Im Zentrum stehen auch hier die Naturbetrachtungen, die sehr anrührend aus Roberts Sicht beschrieben werden, die Bürger-Künstler-Problematik und die Stellung der Frau. Neu ist die zeitliche Verortung direkt nach dem zweiten Weltkrieg, der die Menschen in Großbritannien immer noch im Griff hat. Die fehlenden Männer und anwesenden Kriegsversehrten, das rationierte Essen und die sich ändernde Gesellschaft sind nicht zu übersehen. Wie der Taugenichts der väterlichen Mühle entkommen möchte, flieht Robert vor der drohenden Arbeit unter Tage, die schon seit Generationen von den Männern seiner Familie ausgeübt wird.

Robert und Dulcie sind wunderbare Charaktere, die den Roman nahezu allein tragen. Robert geht unbekümmert und ein bisschen naiv in die Welt und hat viel vom Eichendorffschen Märchenhelden. Die Natur-, Landschafts- und Tierbeschreibungen sind sehr poetisch gelungen und es hat mir große Freude gemacht sie zu lesen. Die Geschichte hat mich sehr berührt und ich habe sie in kürzester Zeit durchgelesen. Die Frage, wie das Leben für Robert weitergeht, ob er seinen Vorfahren in den Kohleabbau folgen wird, hat durchaus für Spannung gesorgt. Und auch Dulcie trägt ein Geheimnis mit sich herum.



Ich kann das Buch sehr empfehlen. Es lebt von leisen Tönen, poetischen Beschreibungen, Gedanken über die Welt, Wünschen und Realitäten. Das schlichte Cover, das für mich die Weite symbolisiert, passt hervorragend zum Inhalt. Das Buch wurde nicht umsonst zum "Liebling des Unabhängigen Buchhandels 2020" gewählt. Von mir gibt es fünf Sterne.