Auch euch gerät es zu groß, merkst du das nicht?

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"Schnee und Eis, Waffen und Krieg - dem fühlt ihr Männer Euch gewachsen, aber nicht den Fragen einer Frau."

Schon immer liebt es Olga, zu beobachten und zu lernen. Schon immer liebt es Herbert, in die Weite hinaus zu rennen. Beide sind sie Außenseiter in ihrem Dorf, sie als zugezogenes armes Mädchen, er als Sohn des dortigen Gutshofbesitzers. In jungen Jahren finden sie zueinander, und ihre Liebe lässt sie nicht mehr los - trotz Herberts Fernweh.

Olgas (und Herberts) Geschichte wird erzählt vor einem breiten Panorama der deutschen Geschichte. Geboren und aufgewachsen im Kaiserreich, weiter durch die Weimarer Republik, Nazideutschland, Nachkriegszeit, 21. Jahundert. Leider fühlt es sich auch genau so auch ein: wie Kurzaufnahmen. Schemenhaft erscheinen die großen Ereignisse der deutschen Geschichte, doch das mag Olgas Abneigung dem Großen und Großgewollten gegenüber geschuldet sein. Dennoch, ein Zeit- oder Epochengefühl kommt nicht auf bei so einer Durchschau.

Auch Olgas Leben bleibt im ersten Teil des Buches skizzenhaft. Wir rasen durch ihre Jugendjahre, machen Halt bei einigen Anekdoten, rasen weiter und weiter, fast als würden wir mit Herbert um die Wette laufen. Lebenseinschneidenden Ereignissen wird nicht mehr als ein Satz gegönnt - bis wir erfahren, dass wir es mit einem Chronisten zu tun haben, der Olgas Leben nacherzählt. Im zweiten Teil leben wir dann mit dem Chronisten, der auf Olgas Spuren wandelt und ihre Briefe an Herbert aufstöbert, der von seiner Polarmission nie zurückgekehrt ist. Und erst dann beginnt der spannende, inhaltsgeladene, emotionale dritte Teil: der Briefroman.

Endlich erfahren wir mehr über Olga, ihr Leben, ihre Gedanken und Gefühle. Diesen Teil des Buches habe ich gerne und flott gelesen, während mir die ersten beiden Drittel durch das rasante Tempo und die fehlende Tiefe merkwürdig fremd blieben. Es klang immer die Frage mit: Warum, Herr Schlink, erzählen Sie uns das eigentlich? Doch im dritten Teil fühlte ich mich ausreichend entschädigt und informiert.

Das Warum beantworte ich mir folgendermaßen: Bernhard Schlink erzählt von der Liebe zweier Menschen, die nie das Glück hatten, zueinander zu finden, ob durch Eigenverschulden oder nicht sei dahin gestellt. Er erzählt vom genügsamen und dennoch irgendwie schönen Leben der Olga Rinke, die die Fernsucht ihres Partners nicht versteht, aber akzeptiert, denn Liebe besitzt niemals und in der Liebe ist niemand verfügbar. Er erzählt von den Abenteurern und den Daheimgebliebenen, vom Scheitern und Aufbäumen, und im Herzen eben von einer Liebe, die den Jahrzehnten und dem Tod trotzt. Und ein kleines bisschen feministisch kommt dieser Roman gar daher, wenn Olga sich gegen die dominante Männerwelt behauptet und diese in Frage stellt: "Genügt es nicht, dass sie uns zurücksetzen, müssen sie uns auch noch demütigen?"

Ein eindeutiges Fazit zu "Olga" zu ziehen fällt mir schwer. Bernhard Schlink ist mir nach wie vor lieb geblieben, hat aber etwas von der Strahlkraft eingebüßt, die seine bisherigen Bücher zu Strudeln aus Gedanken und Gefühlen gemacht hat. "Olga" nimmt zu spät Fahrt auf, lässt die Frage nach dem Warum zu lange unbeantwortet und rast durch Ereignisse, die schockieren, aber nicht berühren, da sie auch Olga kaum zu erreichen scheinen. Erst der briefliche letzte Teil wendet das Blatt und versöhnt mich mit dem Buch. Dennoch, gänzlich befriedigt bin ich nicht.