Eine faszinierende Begegnung in Venedig

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REZENSION – Was wäre wenn? Diese Frage stellt sich Michael Dangl (53) in seinem im Januar beim Braumüller Verlag veröffentlichten Roman „Orangen für Dostojewskij“. Der österreichische Schriftsteller erzählt von einer fiktiven Begegnung des noch unbekannten russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewskij (1821-1881) mit dem weltberühmten italienischen Komponisten Gioachino Rossini (1792-1868). Hatte Dangl uns Leser vor sechs Jahren mit seinem Bestseller „Grado abseits der Pfade“ an das äußerste Ende des Golfs von Venedig entführt, wandelt er diesmal mit uns und dem 40-jährigen Dostojewskij, der tatsächlich im Jahr 1862 seine zweimonatige Europa-Reise mit einem fünftägigen Aufenthalt in Venedig abschloss, durch die Straßen, Restaurants und Sehenswürdigkeiten der Lagunenstadt.
In einem dieser Restaurants wird er eines Abends unversehens von einem schwergewichtigen, älteren Mann zu dessen Festgesellschaft eingeladen, der sich ihm bald als Gioachino Rossini, der von ihm verehrte „Held seiner Jugend“, zu erkennen gibt. Dostojewskij, nach zehnjähriger Haft und Verbannung in Sibirien zur Erholung und literarischer Anregung im westlichen Europa, leidet unter Schwermut und kann sich der Faszination der Lagunenstadt, von deren Besuch er seit Kindheitsjahren träumte, und ihrer Leichtigkeit nicht recht erschließen. Doch dem 30 Jahre älteren „barocken Genussmenschen“ Rossini gelingt es, in den folgenden Tagen den zudem von beruflicher und privater Krise geplagten Russen mit mediterraner Lebensfreude zu verzaubern.
„Begegnen hätten sich die beiden in Venedig können und ihrer jeweiligen Natur gemäß hätte sich dann ihre Beziehung ... so entwickelt“, schreibt der Autor im Klappentext seines auf vielerlei Art faszinierenden Romans. In formvollendeter Sprache, wie man sie in modernen Texten heute nur selten findet, entwickelt Dangl atmosphärische Szenen, die je nach Protagonist zwischen Rausch und Nüchternheit schwanken. Zugleich lässt er seine beiden charakterlich so gegensätzlichen Künstler förmlich aufeinander prallen, und es fasziniert, als Leser mitzuerleben, wie sie sich erst langsam in ihren Gesprächen einander öffnen.
Der sonst so verschlossene Dostojewskij erzählt seine tragische Lebensgeschichte, lässt sich aber durch Rossini allmählich zur Leichtigkeit verführen, verliebt sich sogar in eine junge Schauspielerin - und doch alles nur mit schlechtem Gewissen: „Wie leicht es sich hier leben ließe. Aber waren das nicht unvereinbare Begriffe, 'leben' und 'leicht'? Ein Paradox?“ Auch Rossini zeigt sein wahres Ich. Der von der Öffentlichkeit umjubelte Weltstar lässt erkennen, dass seine Fröhlichkeit nur aufgesetzt ist. Der vermeintliche „Lebemann“ leidet unter Einsamkeit, an Gonorrhoe und manischer Depression. Mitten in seinen Klavierkonzerten habe er begonnen zu weinen. „Ich habe daran gedacht, mich selbst zu töten.“ So ist es am Ende der ernsthafte, 30 Jahre jüngere Russe, der dem lebensfroh scheinenden Italiener empfiehlt, statt der leichten Opera buffa als letztes Werk seines Künstlerlebens doch ein geistliches Musikstück zu schreiben.
Diese intimen, intellektuell und philosophisch großartigen Gespräche zwischen dem Schriftsteller, der vor dem Beginn seiner Weltkarriere steht, und dem weltberühmten Komponisten, der seines Weltruhms leid ist, sind es vor allem, die, in Dangls wohlklingendem Sprachstil formuliert, seinen neuen Roman zu etwas Besonderem machen. „Orangen für Dostojewskij“ wird nicht nur die Liebhaber klassischer Literatur oder Musik erfreuen, sondern ist als preiswürdiger Roman allen Freunden anspruchsvollerer Belletristik zur Lektüre empfohlen.