Ach, Otto!

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knigaljub Avatar

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Otto empört, berührt, bringt einen zum Schmunzeln und im nächsten Moment wieder aus der Fassung. Auf 229 Seiten schafft Dana von Suffrin es, eine ganze Palette von Gefühlen zu erzeugen: Man ist empört, weil Otto sich so unmöglich seinen Töchtern gegenüber verhält. Man ist gerührt, weil man ihm dann doch wieder seinen Stolz und seine Liebe anmerkt. Man hat Mitleid, wenn man seine Angst vor dem Älterwerden spürt. Man muss schmunzeln ob seiner merkwürdigen Eigenarten, seiner übertriebenen Sparsamkeit – und ist gleichzeitig betroffen, wenn einem bewusst wird, dass dies zu den Spuren gehört, die die Enteignung seiner Familie hinterlassen hat.

Episodenhaft erzählt Timna, die Ich-Erzählerin, von ihrem alternden Vater, der sie tyrannisiert, belustigt und gleichzeitig ständig in Sorge versetzt, und streut Erinnerungen an ihre Kindheit und Ottos Leben ein. Sie ist dabei als Erzählerin sehr präsent, kommentiert ihre Erzählung selbst (Bsp.: „dazu später mehr‟, S. 15) und lässt das Erzählte auf diese Weise sehr authentisch wirken. Mir gefallen so stark in Erzählung tretende Erzähler, ich mag es, wenn sie sich direkt an den Leser wenden, aber zwischendurch habe ich kurzzeitig den Eindruck gewonnen, dass man dadurch auch eine etwas größere emotionale Distanz zu dem hat, was Timna aus der Vergangenheit erzählt.

„Unsere Familie war eher ein Klumpen Geschichten. Wäre man weniger wohlmeinend, hätte man sagen können: Unsere Familie war ein Rattenkönig aus Geschichten, eine größere Anzahl räudiger Nagetiere, deren nackte Schwänze sich verheddert hatten und nun untrennbar miteinander verwachsen waren; [...]‟ (S. 88)

Otto ist stolzer Siebenbürgener Jude, strotzt vor Vorurteilen gegenüber Deutschen und Christen – und stößt den Leser damit in ein kleines moralisches Dilemma: Darf man ihn dafür verurteilen?
Neben dieser Frage haben verschiedene Themen Eingang in den Roman gefunden: Es geht nicht nur um Herkunft und Älterwerden, sondern auch um Familie, Zusammenhalt und interkulturelle Kommunikation – denn Ottos ausländische Pflegerin spricht kein Deutsch. Und auch Ottos Deutsch mutet manchmal dermaßen seltsam an, dass seine Töchter für ihn übersetzen müssen. Ich habe es geliebt, wie Otto spricht! Durch seine Art, sich auszudrücken, in Kombination mit seinem Charakter erhält das Buch einen unnachahmlichen Charme und humorvollen Grundtenor. Die Erzählstimme greift diese Ironie gelegentlich auf, was mir unheimlich gut gefallen hat.

„Dann aß er, enttäuscht von der Geistlosigkeit der Frucht seiner Lenden, schweigend seine Kartoffeln auf.‟ (S. 45)

Der Roman ist aber keine einzige Farce, kein sich-permanent-lustig-Machen über einen alternden Patriarchen, sondern immer wieder auch wunderbar anrührend – es gibt zahlreiche Stellen, die mich wirklich bewegt haben, die in ihrer traurigen Schönheit ganz wunderbar erzählt werden – auch, wenn wir dafür gelegentlich den Blick weiten und von Otto (im Zentrum des Ganzen) abwenden müssen, zum Beispiel hin zur Mutter von Timna und ihrer Schwester Babi.

Es gab einen kurzen Moment, in dem ich mich fragte, was diese Perspektiverweiterung soll, warum mir gerade so viel abseits von Otto erzählt wird und in dem ich es schade fand, nicht mehr über die Gegenwart Ottos zu lesen, in dem es mir einmal zu viel nicht direkt um Otto, sondern um scheinbar wahllos herausgepickte Erinnerungsfragmente, geht. Dann jedoch bekommt die Erzählerin wieder die Kurve – und findet Abschlussworte, die die Besonderheit nicht nur dieser, sondern im Grunde jeder, Familiengeschichte auf einen melancholischen Kern bringen.

„Das ist das Traurige der Welt, die Momente halten nicht, und auch die schönen vergessen wir; und selbst wenn nicht, irgendwann nehmen wir sie mit, und sie lösen sich auf mit uns.‟ (S. 209)

Fazit:
Eine von einem humorvollen Grundtenor getragene, immer mal wieder sehr anrührende Familiengeschichte, deren Erzählstruktur mir im Mittelteil zwar etwas zu episodenhaft vorkam, die mich aber ansonsten stilistisch und thematisch überzeugt sowie emotional gekriegt hat. Ein gelungenes Debüt!