Wie fasst man das Unfassbare in Worte?

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kleine hexe Avatar

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Otto, der Patriarch, bittet seine älteste Tochter Timna, die Geschichte der Familie aufzuschreiben, er will sie ihr erzählen. Doch wie fasst man das Unfassbare in Worte? Wie schreibt man die Geschichte einer Familie, die keine Geschichte mehr hat, weil zu wenige aus dieser Familie überlebt haben? Wie soll man über etwas schreiben, das der Vater selber sich weigert auszusprechen und die Anverwandten es ablehnen, auch nur den Stammbaum der Familie zusammen zu stellen, weil so viele Äste fehlen und sie kein Interesse daran haben, an all das Grauen erinnert zu werden. Denn „Dann kamen die Jahre nach 1941, in denen Gott nahm und die Juden wie Gänseblümchen von der Erdoberfläche pflückte“ (S. 125)

Also schreibt Timna über die Geschichte ihrer kleinen Familie: Vater, Mutter, Töchter. Das ist nicht einfach. Mit zunehmendem Alter und fortschreitender Demenz wird der Vater immer schwieriger. Zu jeder Tageszeit ruft er bei Timna und Babi an und bestellt sie zu sich, nach Hause oder ins Krankenhaus. Und Timna und Babi lassen auch alles stehen und liegen und gehorchen. Denn der Vater ist Familie und Familie ist alles was sie haben. Der Vater tut es nicht aus reiner Herrschsucht, sondern weil er die Töchter um sich braucht. Er braucht auch die Gewissheit, dass die Töchter da sind, nicht verschwunden, wie so viele andere Mitglieder der Familie. Otto nimmt es als selbstverständlich hin, dass Timna und Babi für ihn da sind, so wie er einst für seine Töchter da war.

Die Sprache ist nüchtern, trocken, wie ein guter Wein, oft mit einer Art wehmütigen Humor. Sie erinnert an Salcia Landmanns Buch über den jüdischen Witz. So z. B. heißt es auf Seite 125: „…Die Völker der einstigen Judenschlächter waren mit Eurodance beschäftigt.“ Wenn Otto spricht, bekommt die Sprache einen eigenartigen Klang. Der Satzbau ist anders, das Finitum steht am Ende des Satzes. Wer das Siebenbürgische Deutsch nicht kennt, wird eher an Meister Yoda aus Star Wars erinnert. Aber im Siebenbürgischen Deutsch ist diese Art der Sprache nicht unüblich, auch wenn sie sich langsam verliert, assimiliert wird von der Hochform der deutschen Sprache.

Ein schönes Buch. Schwierig, aber schön. Manchmal elegisch, manchmal ironisch, lässt es einen nicht mehr los, wenn man sich einmal darin eingelesen hat. Und zum Schluss stimmt man mit Dana von Suffrin überein, wenn sie die Ich-Erzählerin nach dem Tod des Vaters sagen lässt: „Meine Gedanken waren kein Monument, meine Familie war nicht bedeutend, und meine Geschichte war es nicht. Nichts davon verdiente eine Gedenkstätte. Meine Gedanken waren nur so lange da wie ich, und sie waren Gedanken des Hasses und der Liebe.“ (S. 228)