Verbrechen im Schatten der Besatzung

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Eine Metropole liegt in Schockstarre, doch beim genauen Hinsehen lebt und arbeitet die Pariser Unterwelt nicht nur weiter, sondern sie geht eine Allianz ein mit den neuen Herren der Stadt, den „Boches“, den deutschen Besatzern im Jahr 1940. Auf diese verhängnisvolle Mischung trifft in Chris Llyod historischen Krimi „Paris Requiem“ der Ermittler Eddie Giral. Ihn kennt man schon, wenn man den Vorgänger „Die Toten vom Gare d’Austerlitz“ gelesen hat. Dessen Handlung muss man aber nicht kennen, um den Jahre später einsetzenden Ermittlungen folgen zu können. Diese beginnen mit dem Auffinden einer mysteriös hergerichteten Leiche eines hinter Gitter geglaubten Verbrechers. Sie findet sich ausgerechnet in einem durch die Deutschen stillgelegten Jazz-Club. Wer steckt dahinter und hinter dem spurlosen Verschwinden weiterer Inhaftierter? Wer hat ein Interesse daran, der Pariser Unterwelt und der Polizei auf makabre Weise Warnungen zukommen zu lassen? Verbrecher, die ihre Stunde gekommen sehen, oder die Besatzer. Deren Verhalten und Absichten in der Stadt erscheint ihren Bewohnern, die nur von wenigen rationierten Lebensmitteln leben müssen, ohnehin undurchsichtig. Vor wem muss man sich fürchten zwischen Montparnasse und Champs-Elysee? Der Gestapo, den patrouillierenden Wehrmachts-Offizieren oder doch den großen und kleinen Fischen der althergebrachten Unterwelt?
Da „Paris Requim“ aus der Sicht des Ermittlers erzählt wird, bleibt die Spannung über diese Fragen bis zum Schluss erhalten. Geschickt verknüpft Chris Lloyd die historischen Gegebenheiten mit dem privaten Schicksal des Ich-Erzählers, dessen persönliche Brandmauer zum ausländischen Besatzerregime und zu den inländischen Verbrechern immer wieder ins Wanken gerät: Mache ich gemeinsam mit dem einen Bösen gemeinsame Sache, um das andere Böse zu bekämpfen? Hier geht der Roman über Kriminalhandlung und Historienschilderung weit hinaus, um eine existentielle Frage zu verhandeln, die aber mit immer neuen Wendungen dauerhaft spannend bleibt.
Die historische Darstellung geht bis ins Detail, verliert sich aber nicht darin. Das Nachwort gibt einen Überblick über die nichtfiktionalen Hintergründe. Vor allem der zusätzliche Handlungsstrang der Suche nach einem afrikanischen Kriegsgefangenen, der für die Franzosen kämpfte, richtet den Scheinwerfer auf ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs, das in Deutschland aber sicherlich auch in anderen europäischen Ländern noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Die auf dem Cover angesprochene Option des Widerstands spielt allerdings für die Erzählung in der engen Bedeutung des Begriffes keine ausgeprägte Rolle. Die französische Résistance und deren Unterstützung aus dem Ausland durch de Gaulle scheint tatsächlich nur kurz auf in der düsteren und perspektivlosen Schockstarre. Das macht aber für die individuelle Spannung in der Figur Eddi Girals nichts.