Wer hat die Macht?

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schneeglöckchen_gk Avatar

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In einem geschlossenen Jazzclub in Paris wird eine Leiche entdeckt, deren Lippen mit Bindfaden zugenäht wurden. Das Mordopfer ist aber nicht irgendwer, sondern ein Krimineller, der eigentlich im Gefängnis sitzen sollte. Es stellt sich heraus, dass er nicht der einzige Häftling ist, der auf mysteriöse Weise aus dem Gefängnis entlassen wurde. Und es wird auch nicht der einzige Tote in diesem Buch bleiben. Chris Lloyds neuer Kriminalroman „Paris Requiem“, der zweite Band aus der Reihe rund um den Ermittler Eddie Giral, führt uns ins Paris im Jahre 1940, einige Monate, nachdem die Nazis Frankreich besetzt haben. Die Bevölkerung leidet unter den Repressalien der Besatzer, die Lebensmittel und der Treibstoff sind rationiert und Aktionen gegen Juden, Schwarze und Andersdenkende gehören zur neuen Normalität. Zeitgleich hat eine Bande die Stadt unter Kontrolle, die so mächtig zu sein scheint, dass sie unbehelligt ihr Unwesen treiben kann. Vermag Eddie es, diese dunklen Mächte zu stoppen?

Edddie Giral kennt alle Kriminellen in Paris beim Namen und nutzt gerne seine Verbindungen ins zwielichtige Milieu. Der charismatische Polizist ist impulsiv, emotional und draufgängerisch, macht was er will und ermittelt meist auf eigene Faust. In diesem Band habe ich ihn allerdings als einfühlsamer empfunden, was ihn sympathischer wirken ließ. Außerdem ist es Chris Lloyd gelungen, dass Eddie sich noch mehr öffnet und man ihm besser folgen kann, wodurch er mir vertrauter wurde. Es mag auch damit zusammenhängen, dass Eddie diesmal im Team mit Boniface unterwegs ist. Diese Figur habe ich als sehr guten Sparring Partner für Eddie wahrgenommen, was mir gut gefallen hat.
In gewohnter Manier vermischt sich Privates zunehmend mit den Ermittlungen. Die Besitzer der Jazzclubs sind alte Bekannte, mit einigen der Ganoven geht Eddie ebenfalls um wie mit langjährigen Freunden. Seine zwielichtige Vergangenheit und die persönlichen Verbindungen zu vielen der Protagonisten ist allgegenwärtig. Anfangs häufig in Form von vagen Andeutungen, zu denen im weiteren Verlauf aber auch ausführlichere Hintergrunderzählungen geliefert werden. Aus Band 1 könnte man ein wenig Vorwissen über Dax und Eddies Sohn Jean-Luc mitbringen, auch der Name Dominique ist dort schon aufgetaucht. Allerdings liegt der Fokus diesmal auf anderen Personen und man kann der Handlung problemlos folgen, ohne den ersten Teil der Reihe gelesen zu haben.

Mir erschien dieser Band politischer als der erste, Eddies Meinung kommt deutlicher zum Ausdruck. Diese Tatsache ist eingewoben in ein gut recherchiertes Portrait der damaligen Zeit. Ganz nebenbei lernt man viel über die Vichy Regierung, die verschiedenen Sichtweisen der Franzosen auf den Umgang mit den Besatzern und das alltägliche Leben in der neuen Normalität. Die historische Komponente und die beeindruckende Recherche machen dieses Buch zu einem ganz besonderen Krimi/Thriller, der viel Wissen über die damalige Zeit vermittelt.

In der ersten Hälfte des Buchs wird hauptsächlich ermittelt, Eddie und Boniface befragen zahlreiche Leute an verschiedenen Orten in der Stadt und treffen sich hin und wieder mit den Deutschen. Dabei scheint es lange Zeit, als würden sie ohne konkreten Plan arbeiten. In der zweiten Hälfte nimmt die Geschichte Fahrt auf, die Ereignisse häufen sich. Das Ende kam für mich dann sehr abrupt und ich hatte das Gefühl, in den Wirren der Story einen Twist verpasst zu haben. Dieser Verlauf scheint ein Muster zu sein, war es im ersten Band doch ähnlich.
Der Text lässt sich leicht und flüssig lesen. Ein zügiges Lesen ist problemlos möglich, auch, weil einige Formulierungen wiederholt verwendet werden. Die Kapitel haben eine sehr gute Länge, sie sind relativ kurz, wodurch man, trotz vorhandenem Spannungsaufbau, jederzeit die Möglichkeit hat, die Geschichte zu pausieren. Die Covergestaltung gefällt mir gut, durch das Blaugrün wirkt das Buch deutlich freundlicher als die düstere schwarz-weiß Ausgabe des ersten Bandes, was wiederum auch zum Inhalt und zur Stimmung im Roman passt. Mich stört lediglich, dass es dem Verlag nicht gelungen ist, den Buchrücken analog zum ersten Band zu gestalten.
Was es mit dem Titel auf sich hat, hat sich mir bis zum Schluss nicht erschlossen. Zwar spielt Musik eine prominente Rolle im Roman, aber in Form von Jazz und Oper. Eine Totenmesse kommt dabei nicht vor.

Die Stärke dieses Romans liegt ganz klar in den Dialogen und der lebendigen Erzählweise. Seit ich vor drei Jahren den ersten Band gelesen habe, sind mir vor allem die atmosphärischen Beschreibungen einiger Szenen nachhaltig in Erinnerung geblieben. Und ich gehe davon aus, dass es nach der Lektüre dieses zweiten Bandes ähnlich sein wird. (Für alle, die Band 1 kennen: Ich fand den zweiten sogar noch einen Tick besser!) Was bleibt ist nicht unbedingt das zufriedenstellende Gefühl, wenn man gemeinsam mit den Ermittlern einen konkreten Fall gelöst hat, wie es oft bei Krimis der Fall ist. Vielmehr sind es die Atmosphäre der Geschichte und der Gesamteindruck, die bleiben. Dabei spielt sicherlich auch eine Rolle, dass Schuld in diesem Roman eine relative Sache ist und nicht der eine Schuldige dingfest gemacht wird, sondern das Setting so komplex ist, dass viele Schicksale in die Frage nach der Schuld verstrickt sind.