Besuch im Haus der Lügen

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theresia626 Avatar

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„Manche Dinge kann der Verstand allein nicht fassen. Also hör, wenn Du kannst, mit deinem ganzen Sinn zu. Die Geschichte drängt hervor, verlangt, erzählt zu werden, hier, jetzt…“ (S. 11) In „Perla“, dem neuen Roman von Carolina De Robertis, geht es um die Gräueltaten der Militärdiktatur, die in Argentinien von 1976 bis 1983 herrschte und für das Verschwinden einer unermesslich hohen Anzahl unschuldiger Menschen verantwortlich ist. Perla, die Heldin des vorliegenden Romans, wächst wohlbehütet als Tochter eines Marineoffiziers in Buenos Aires auf. Héctor, ihr Vater ist streng, aber sie liebt ihn über alles, und er ist gut zu ihr, schlägt sie nie, „so wie sein Vater es mit ihm gemacht hat.“ (S.51) Ihre Mutter ist wunderschön und unnahbar. Als Zwölfjährige schreibt sie in der Schule eine Geschichte, …“in der die ganze Schar der Dreißigtausend schlaflos wartete, gefangen in einer geheimen Dimension“ (S. 39), die einen Preis gewinnt und in der Zeitung veröffentlicht wird. In ihrer Geschichte lebten die Dreißigtausend dichtgedrängt in ihren neuen Häusern und wollten denen, die sie zurückgelassen hatten mitteilen, was passiert war. Diese Geschichte verändert Perlas Verhältnis zu ihren Eltern, obwohl sie noch für mehrere Jahre die brave, angepasste Tochter bleibt. Perla verliert ihre beste Freundin Romina, als sie sie das erste Mal mit zu sich nach Hause nimmt. Romina entdeckt im Arbeitszimmer von Perlas Vater ein Foto, das ihn in voller Uniform in einer Reihe von Offizieren vor der Marineschule zeigt. Sie ist bestürzt, weil ihre Onkel auch unter der Verschwundenen sind. „Von da an senkten sich die Verbrechen meines Vaters – und zugleich der ganzen Nation, Verbrechen, die ich nicht in Worte gefasst hatte – auf mich herab, ritten auf meinem Rücken, schlangen sich um meine Schultern, klebten an mir und ließen sich nicht wegwischen.“ (S. 65)

Im März 2001 - Perla ist 20 Jahre alt und hat sich gegen den Wunsch ihres Vaters für ein Psychologiestudium entschieden - taucht im Wohnzimmer des Hauses ihrer Eltern ein nasser Besucher auf, dessen unglaubliche und traurige Geschichte die Autorin in Rückblenden erzählt. Der Besucher verliert unablässig Wasser, ernährt sich sogar von Wasser, das er kaut, als wäre es feste Nahrung. Im gleichen Maße, wie das Wasser aus ihm herausfließt, kommen seine Erinnerungen an die Geschehnisse vor über zwanzig Jahren zurück. Am Ende weiß er, was ihm widerfahren ist, nur seinen Namen kennt er nicht. Perla und der Besucher kommen sich immer näher. Durch die Begegnung beginnt Perla, sich mit ihrer Herkunft und ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Anstoß dazu gab schon ihr Freund Gabriel, von dem sie sich völlig überraschend während eines Wochenendurlaubes in Uruguay getrennt hat. Die Begegnung mit dem Besucher verändert ihr Leben für immer, bietet ihr jedoch auch die Chance für einen Neuanfang.

„Perla“ von Carolina De Robertis ist ein außergewöhnliches, ernstes, bewegendes und leidenschaftliches Buch, das nicht einfach zu lesen ist, sich aber durch mitreißende Prosa auszeichnet. Es geht um die tiefen Bindungen zwischen Eltern und Kindern, um die eigene Identität, um Verrat und Verlust. Ganze Familien wurden auseinandergerissen, Kinder von ihren Eltern getrennt und zur Adoption freigegeben. Die Autorin zeigt, wie mutig die Demonstranten waren, die regelmäßig auf der Plaza de Mayo Aufklärung über das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen verlangten und auf ihre Rückkehr hofften. De Robertis ist nicht zimperlich in der Darstellung der Qualen, die die Opfer der Militärdiktatur erlitten. Sie hat die 30000 Verschwundenen für den Leser durch die Anwesenheit eines Einzelnen, diesem triefenden Zombi in Perlas Wohnzimmer, der gefoltert und lebendig aus dem Flugzeug geworfen wurde, sichtbar gemacht und ihnen eine Stimme gegeben. In diesem Roman verknüpft sie gekonnt das Übernatürliche mit der brutalen Realität. Ein empfehlenswertes Buch.