Entwurzelte Seelen

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botte05 Avatar

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Carolina De Robertis setzt sich in ihrem Buch „Perla“ mit Argentinien zur Zeit der Militärjunta in den Jahren 1976 bis 1978 auseinander. Ihr besonderes Augenmerk gilt dem Schicksal der ca. 30.000 Desaparecidos („Verschwundenen“), überwiegend Studenten, die entführt, gefangen gehalten, gefoltert und auf grausame Weise „entsorgt“ wurden. „Perla“ bringt mir als Leser diese Ereignisse nahe im Rückblick aus Sicht der Psychologiestudentin Perla und eines der Desaparecidos, die sich auf wundersame Weise in der Gegenwart begegnen.

Perla wächst wohlbehütet in guten Verhältnissen auf. Die politischen Ereignisse in ihrer Heimat Argentinien nimmt sie als Kind nur am Rande wahr und auch ihre Eltern schirmen sie gegen das „Lügengebilde“ um sie herum ab. Perla’s Vater ist Offizier und somit Mitglied des Militärregimes.Dieser Umstand wird daheim nicht näher betrachtet. Perla liebt ihre Eltern, glaubt und vertraut ihnen. Aufgrund dessen wundert sie sich ein wenig, wenn andere Kinder auf Intervention ihrer Eltern nicht mehr mit ihr spielen dürfen. Lediglich der Bruch mit ihrer geliebten Freundin Romina hinterlässt Spuren, die Perla aber lieber verdrängt.

In der Gegenwart lebt Perla immer noch bei ihren Eltern. Sie weiß vage um die Ereignisse in den siebziger Jahren und hält – so gut es geht – die politische Haltung und den Beruf des Vaters gegenüber ihrer Umwelt verborgen. Sorglos schreitet sie durch ihr Leben und will von der Vergangenheit nichts wissen. Gerade hat sie ihren politisch anders denkenden Freund Gabriel verlassen. In diesem Umfeld begegnet ihr einer der Verschwundenen. Der Mann versucht, seiner eigenen Vergangenheit gewahr zu werden, während Perla äußerst ablehnend dieser unerwarteten Situation gegenübersteht.

Behutsam nähert sich Perla der Realität ihrer Vergangenheit, versucht immer wieder diesem Prozess zu entfliehen, da er sie in ihren Tiefen und im Verhältnis zu ihren geliebten Eltern erschüttert. Der Verschwundene hingegen sucht gezielt in sich nach der Vergangenheit und lässt den Leser an einer Reise voller Schmerz, Erniedrigung, Todessehnsucht und der immer wiederkehrenden Frage nach dem „Warum?“ teilhaben, ein Unterfangen, das er damals und heute in der Erinnerung nur begehen und überstehen kann aus der unendlich große Liebe zu seiner Ehefrau Gloria.

Nach und Nach öffnet sich Perla ihren verschütteten Erinnerungen und sucht die Nähe zu dem – nun nicht mehr – Verschwundenen, um der nackten Wahrheit ins Gesicht zu sehen und sich ihrer Verantwortung in ihrem Leben zu stellen. Eine Wahrheit, die ihr bisheriges Leben bis in die tiefsten Wurzeln erschüttert und auseinanderreißt.

Carolina De Robertis gelingt es in ihrem Buch, ein schweres Thema in ein märchenhaftes Gewand zu hüllen und den Leser sanft zu der brutalen Wahrheit zu begleiten. Ich stand der Handlung zunächst aufgrund der Unwahrscheinlichkeit der Ereignisse zu Anfang des Buches sehr skeptisch gegenüber, aber gerade diese „Verpackung“ hat mich geöffnet für den politischen Hintergrund, der mir bis dato nicht gegenwärtig gewesen ist. Und genau wie Perla es in dem Buch durchlebt, habe auch ich mich der Vergangenheit Argentiniens und der beiden Protagonisten stellen wollen und bin am Ende traurig und betroffen, aber auch glücklich und zuversichtlich von einer trotzdem wunderschönen Reise zurückgekehrt.

Ich bin kein „politischer Mensch“ – soweit das überhaupt möglich ist. Hätte mir jemand ein Sachbuch über die politischen Wirren Argentiniens jener Zeit an die Hand gegeben, hätte ich mich mutmaßlich hindurch gequält und fertig. Mit „Perla“ ist aber mein Interesse an Argentinien insoweit geweckt worden, dass ich den politischen Inhalt hinterfragt und überprüft habe. „Perla“ hat mich berührt und wird mich nicht so schnell loslassen. Und so komme ich zu der Einschätzung, dass dieses Buch durchaus ein Buch für Jedermann ist, eine Gewisse Bereitschaft, „über den Tellerrand zu blicken“, vorausgesetzt.

Rezension: Carolina De Robertis, Perla, Verlag: Fischer Krüger, Literatur, gebundene Ausgabe, 336 Seiten, 18,99 €, Erscheinungsdatum: 07.03.2013