Von der kosmopolitischen Weiblichkeit

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fräulein_jennifee Avatar

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“Gefühle und Sehnsüchte, Freude und Vorfreude waren in ihrer Familie irgendwann verschwunden, wie die Murmeln eines Spiels. Niemand wusste mehr, wer wann und wo die Kugeln verloren hatte.” So porträtiert Elisabeth Sandmann die Familie der kleinen Ella, die als elfjähriges Mädchen auszieht, um ihre Träume zu leben. Sandmann schafft es meisterhaft, ihren Roman wie kaum eine zweite mit zitatfähigen Stellen dieser Art zu spicken, ohne dabei in die Altklugheit abzudriften.

In ihrem Roman sind es die Frauen, die den Epochen zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts Leben einhauchen. Sie zelebriert ihre Vielfalt von der mutig-naiven Ella, über die kapriziös-liebenswerte Ilsabé bis hin zu Gwen, die wir gefangen in einer Midlifecrisis antreffen. Sie scheut niemals davor zurück, auch die schlechten Seiten ihrer Figuren in den Mittelpunkt zu rücken. Im Gegenteil, allzu oft werden gerade diese regelrecht zelebriert. Letztlich ist es Ilsabés Extravaganz und Lilys Sehnsucht nach dem verlorenen Familiensilber zuzuschreiben, dass der Stein des Anstoßes überhaupt ins Rollen gerät. Vor diesem Hintergrund wird eines ganz deutlich: Keine der Frauen ist ausschließlich das, was die Anderen von ihr behaupten zu sein. Die als Egomanin verschriene Ilsabé überrascht mit Szenen der Rührung, während mit Lotte eine ehemalige KGB-Agentin ihrer Freundin zuliebe einen Liebermann nach Westdeutschland schmuggelt. Diese kleinen Momente hauchen den porträtierten Frauen das Leben ein, von dem der Roman zehrt.

Die Erzählreise führt von Bad Tölz über Berlin bis nach Ostpreußen und London, wobei Sandmann es schafft, jede einzelne Station in kleinen Details vor dem Auge des Lesers erstehen zu lassen, sei es die Mannsche Familienvilla in Bad Tölz oder das KaDeWe in Berlin. Überhaupt erweist sich Sandmann als Kosmopolitin, schreibt über englische Teetradition ebenso versiert wie über kaschubische Hausmannskost und am Ende glaubt die Leserin auch noch, etwas über Ägyptologie und Kunstgeschichte gelernt zu haben.

Am Schluss steht das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Allerdings nicht als Zeitzeugin, sondern als Zuschauerin eines guten Films. Das Erzähltempo und die unterschiedlichen Textformen schaffen eine Perspektive, in der die Leserin gleich einer Kinobesucherin einen Film an sich vorüberziehen sieht. Wenn aber der Text hin und wieder verweilt, ersteht in bunten Farben eine weiblich geprägte Welt, die so facettenreich ist, dass ich persönlich den zweiten Teil kaum erwarten kann. Man könnte gewissermaßen sagen, dass ich meinen Platz auf den Zuschauerrängen des zweiten Teils bereits reserviert habe.