Eine ungewöhnliche Frau

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Eine Frau, deren Regentschaft als viktorianisches Zeitalter bezeichnet wird, muss einfach außergewöhnlich gewesen sein. Zur damaligen Zeit war der Thron, anders als jetzt, nicht nur ein repräsentatives Amt. Es wurde direkt Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Leben genommen und ganz nebenbei, natürlich abgepuffert durch unzählige Bedienstet und Lakaien, wurde eine große Familie gegründet. Frau und Mutter zu sein ist heute schon eine enorme Herausforderung für jede Frau. Für eine Königin die während ihrer Regentschaft fast ausschließlich von Männern begleitet wurde, muss das nicht minder anspruchsvoll gewesen sein.

Julia Bairds Biographie der Victoria ist ein sehr umfangreiches Werk, aufgebaut wie eine Dissertation, allein das Quellenverzeichnis macht ein Fünftel des Buches aus. Die Autorin zeichnet den Lebensweg der Monarchin nach, von der vaterlosen Kindheit und Jugend, über die Krönung, die Heirat mit einem deutschstämmigen Prinzen und die darauf folgende Familiengründung, der Trauer um ihren Mann und ihre Regentschaft in der sie aktiv politisch mitwirkt. Das Buch ist mit reichlich Bildmaterial unterlegt, es kommen jedoch nicht nur engste Vertraute Victorias zu Wort, sondern auch berühmte Zeitzeugen wie Charles Dickens, Winston Churchill, Mark Twain, Florence Nightingale u.v.m. Beindruckend fand ich auch, dass die Autorin viele Entscheidungen, die Victoria während ihrer Regentschaft trifft, recht ausführlich in den geschichtlichen Kontext bringt. Es werden die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen der armen Bevölkerung geschildert. Der hohe Anteil an Kinderarbeit (tlw. sind Vierjährige in den Erzgruben beschäftigt worden), desolate Wohnverhältnisse, grassierende Seuchen, die durch hygienische Missstände immer wieder ausbrechen und ganz besonders hart die ärmere Bevölkerung treffen.

Für mich ist dieses Buch eine umfangreiche Schilderung der politischen Lage Europas des 19.Jahrhunderts. Viele politische (Fehl)Entscheidungen die dort getroffen wurden haben direkte Auswirkungen auf das 20. Jahrhundert und mittendrin eine emanzipierte Monarchin, die die Macht und Einflussnahme ihrerseits fordert, der weiblichen Bevölkerung aber erst zum Ende ihrer Regentschaft einige Zugeständnisse hinsichtlich ihrer Selbstbestimmung macht. Genau diese Ambivalenz macht Julia Baird mehrfach zum Thema.
„Victoria“ ist eine Biographie, die man nicht so nebenbei durchliest, auf dieses Buch muss man sich bewusst einlassen. Für Leser mit einer Vorliebe für sehr gut recherchierte Geschichte, ein absolutes Muss.

Ein Manko, das ich nicht in die Bewertung mit einfließen lasse (weil ich das der Autorin gegenüber ungerecht empfinden würde), sind die enormen Fehler in der Rechtschreibung und Grammatik. Ich kann jetzt nicht genau sagen ob das eventuell an der Übersetzung liegen könnte. Es sind jedenfalls so viele, dass ich mich, die sowas sonst gerne überliest, sehr gestört fühlte. Hier sollte vom Verlag noch einmal nachgebessert werden.