Eine moderne Sintflut

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sabisteb Avatar

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Der 23. Mai ist ein ganz normaler Mittwoch bis zu dem Zeitpunkt als um 7:00 der Strom ausfällt. Überall. Auch dann noch scheint der Tag vollkommen normal bis die ersten Flugzeuge vom Himmel stürzen und Tod und Vernichtung sähen.
Der Countdown beginnt bis zur ersten Morden, Plünderungen, Hunger und Tod.
Schon nach wenigen Stunden wird aus Ordnung Chaos und aus dem von Geburt an antrainierten Miteinander einer funktionierenden Gesellschaft ein egoistisches Gegeneinander.
Der Zusammenbruch trifft die Städter am stärksten. Nachdem die Geschäfte geplündert wurde, teilen Gangs die Viertel unter sich ein und beginnen die Bewohner zu tyrannisieren, aber irgendwann gehen allen Menschen in den Städten die Lebensmittel aus und die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Auf dem Lande jedoch hat man sich mittlerweile organisiert und abgeschottet, mit Straßensperren werden Flüchtlinge um die Ortschaften geleitet und von den noch halbwegs intakten dörflichen Gemeinschaften ferngehalten. Fremdes wird zu Bedrohung und jeder Mitesser zur Gefahr für das eigene Leben und das der eigenen Familie.

„Bisher waren es immer Kriege, die alles wegbrechen. Zuerst ein Konflikt, dann Krieg, dann Anarchie und Elend und Einsamkeit. Was aber folgt, wenn der Wegbrechen zuerst kommt?“. Dieser Frage geht der Autor Michael Tietz in seinem Erstling Rattentanz anhand vieler Einzelschicksale nach. Er erzählt die Geschichte des kleinen Schwarzwälder Ortes Wellendingen und seiner Bewohner. Er erzählt wie aus unauffälligen Menschen Helden und Führer werden, die die Gemeinschaft schützen und unterstützen, er erzählt von machtgierigen, korrupten Menschen, die diese Situation ausnützen wollen, um sich einen eigenen Machtbereich aufzubauen, und er erzählt von der Liebe eines Vaters und Ehemannes, die groß und Stark genug ist, ihn den Weg von Schweden nach Hause durch Tod und Chaos suchen zu lassen und der dabei nie die Hoffnung verliert, seine Frau uns seine Tochter doch noch lebend vorzufinden.
Der Autor hat eine unglaublich fesselnde, geradlinige Art zu erzählen. Er verzichtet auf blumige Umschreibungen und Vergleiche, aber vielleicht gerade dadurch versinkt man in der Geschichte. Die Menschen, die er beschreibt entsprechen keinen Archetyp, sie sind Menschen aus Fleisch und Blut wie jeder von uns. Sie haben viele Fehler, sind rachsüchtig, verrückt und grausam, aber auch hilfsbereit und stark. Die Katastrophe bringt in einigen von ihnen das Beste und in anderen das Schlechteste hervor.
Teils erinnert das Buch an Stepehn Kings „The Stand“, teils jedoch auch an John Christophers „Tal des Lebens“. Dieses Buch hat mich unglaublich beeindruckt und auch mitgenommen. Nach einiger Zeit mit diesem buch wurden mir viele der modernen Errungenschaften zeitweilig sehr gleichgültig und einige Dinge kamen mir schlichtweg sinnlos vor. Dieses Buch mach einem bewusst, wie unglaublich abhängig wir uns von der modernen Technik gemacht haben und wie hilflos wir ohne sie geworden sind, ja schon fast lebensunfähig.
Die Menschen des Buches, die überleben, sehen diese Katastrophe, diese moderne Sintflut jedoch auch als eine Chance sich wieder auf das Wesentliche des Menschseins zu konzentrieren. Aber worin besteht das Menschsein, was macht uns zu Menschen und unterscheidet und vom Tier? Was für eine Gesellschaft wird sich aus diesem Chaos erheben?

Diese Art von Zukunftsvision und Analyse der Gesellschaft die daraus entsteht ist nicht neu. Diese Art von Romanen waren in den 60er und 70er Jahren beliebt und der für mich bekannteste Autor dieses Genres ist John Christopher. Er entwickelte ähnlichen Gesellschaftsstudien basieren auf unwichtigen Kleinigkeiten, die jedoch große Katastrophen auslösen. In „Tal des Lebens“ vernichtet ein Virus sämtliche Gräser, in „World in Winter“ versinkt die nördliche Hemisphäre in Schnee und die Menschen flüchten nach Afrika und in „Pendulum“ ergreifen endlich einmal die jungen Menschen die Macht. Die Liste der möglichen Szenarien lässt sich beliebig weiterführen. Während John Christopher diese gesellschaftliche Analyse jedoch basieren auf den Erlebnissen meist einer Familie durchführt, Untersucht Michael Tietz größere menschliche Gemeinschaften und ihre Reaktion auf diese Katastrophen, aber beide Autoren kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen.

Michael Tietz ist für mich der deutsche John Christopher. Dieses Debüt ist für mich das beeindruckendste Buch des Jahres und stellt „Ausgebrannt“ von Andeas Eschbach weit in den Schatten. Dass dieses Buch gut ist zeigt vor allem auch, dass der Ullstein Verlag sich entschieden hat, die Lizenzrechte dieses Buches zu erwerben, denn dieser Roman erschin ursprünglich im kleinen, unbekannten Bookspot Verlag und erreichte selbst da ein großes, begeistertes Publikum.

Natürlich ist auch dieses Buch nicht perfekt. Es werden einige Probleme angerissen, die danach leider nicht mehr weiter beobachtet werden. So explodiert in Frankreich ein Atomkraftwerk, die radioaktive Wolke scheint sich zum Glück nicht nach Deutschland auszubreiten, aber andere müssen die Folgen sicherlich zu spüren bekommen. Auch die angesprochenen Havarien von Tankern lösen große Umweltkatastrophen aus, ganz zu schweigen von der Verseuchung des Trinkwassers durch die Leichenberge, die sich irgendwann überall um die Großstädte türmen. Wellendingen hat das Wasserproblem in den Griff bekommen und scheint das Glück zu haben, dass keine weitere Ortschaft an ihrem Flüsschen liegt, die den Bewohnern das Wasser verseuchen könnte, aber was ist mit den Menschen die flußabwärts von Wellendingen leben, nehmen diese so einfach hin dass die Bewohner ihre Wäsche in deren Trinkwasser waschen. Es wird eine Ortschaft erwähnt, die dieses Problem mit der Auslöschung des Dorfes am Oberlauf ihres Trinkwasserflusses löst, Wellendingen scheint in dieser Hinsicht Glück zu haben oder sein Wasser gut genug abzukochen.
Diese kleinen Lücken kann man jedoch verschmerzen, denn das Hauptaugenmerk des Buches liegt in der Beobachtung der Menschen und wie sie auf diese neue Situation reagieren und diese ist sehr gelungen.

Für mich ein besonderes Bonbon: Das Buch spielt an vielen Orten die ich kenne wie Donaueschingen, das verleiht der Geschichte unglaubliche Realitätsnähe.