Endzeit in Deutschland!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
nickimaus Avatar

Von

Ein absolut geniales Buch. Trotz der über 800, mit kleiner Schrift bedruckten Seiten, war "Rattentanz" zu keiner Sekunde langweilig, sondern fesselnd von Anfang bis zum Ende.

Mir ist es so ergangen, dass ich oft und viel darüber sinniert habe, was man denn selbst tun würde wenn sämtliche Technik und Elektronik von der einen auf die andere Sekunde nicht mehr funktionieren würde und innerhalb von Stunden das absolute Chaos an jeder Ecke in der Welt ausbrechen würde. Würde man über kurz oder lang seine Heimat verlassen und sein Glück anderswo versuchen? Würde man vielleicht seinen Nachbarn zerfleischen im Kampf um das letzte Brot? Würde man sich seine Menschlichkeit bewahren oder würde man über Leichen gehen? Wie würde so ein Szenario meine Persönlichkeit verändern? Ich habe ja schon viele Endzeit- und Apokalypse-Romane gelesen, aber außer Stephen Kings "The Stand" (an das ich übrigens einige Male erinnert wurde) fällt mir jetzt spontan keines ein, dass mich so in seinen Bann gezogen hat wie "Rattentanz".

Das Besondere an diesem Buch ist, dass es sich nicht, wie sonst oft üblich, in Großstädten oder an bekannten Orten abspielt, sondern größtenteils in einem beschaulichen, ländlich gelegenem 400-Einwohner-Ort in Süddeutschland. Zwischendurch schaltet Michael Tietz aber in kurzen Kapiteln immer wieder zu bekannteren Orten wie z.B. Venedig oder Moskau, so dass das Ausmaß dieser globalen Katastrophe und die Tragweite dieses Vorfalls für den Leser sehr gut begreiflich gemacht wird. Auf Effekthascherei war der Autor keinesfalls aus. Es fließt zwar schon Blut und es werden auch einige brutale Vorfälle geschildert, aber der ruhige, sachliche und beobachtende Schreibstil von Michael Tietz passt hervorragend zu der Handlung und auch zur größtenteils ländlichen Umgebung, in die der Autor den Leser entführt. Er nimmt auch sozusagen einen allwissenden Status an, der uns immer genau erzählt, was passiert ist und was die Charaktere denken. Zu lüftende Geheimnisse gibt es somit eher weniger, der Spannung tat dies allerdings keinen Abbruch, da "Rattentanz" von seiner Atmosphäre lebt.

Mir ist alles beängstigend realistisch vorgekommen und ich möchte nicht bestreiten, dass, sollte es irgendwann zu einer Katastrophe wie dieser kommen, sowohl die Ursache eine ähnliche sein könnte als auch die Nachwirkungen ungefähr so verlaufen könnten. Zuerst die Gewalt und nach einiger Zeit die Verzweiflung und die Traurigkeit sind greifbar nach dem "Schalter umlegen", wie das Unglück im Buch von den Personen oft genannt wird. Es gibt zwar immer wieder Hoffnung und Fortschritte, der größte Teil des Buches ist allerdings ziemlich düster und depressiv dargestellt.

Ebenso genial sind die Charaktere, die Michael Tietz erschaffen hat. Jede Person, auch die kleinste Nebenperson, wird uns mit einem detaillierten, aber nie langweiligen Lebenslauf vorgestellt. Das gibt ihnen eine Vergangenheit und ein Gesicht, so dass trotz einer Vielzahl auftretender Menschen keine Verwechslungsgefahr besteht. Die vielen Einwohner des Dorfes ergeben somit keine anonyme, graue Masse, sondern spalten sich auf in Individuen mit einem klar definierten Charakter.

Es gibt zwar einen Showdown, aber, verglichen mit der Länge des Buches, eher einen kurzen und unspektakulären. Ein großes Inferno wäre auch unpassend gewesen. Vielmehr wirft Michael Tietz, wie schon so oft, ethische Fragen auf und nimmt den Leser mit einem "Was würde ich tun?"-Szenario in die Verantwortung.

Ein wunderbares Buch, bei dem ich keine einzigen Schwachpunkt nennen könnte, ist dem Autor hiermit gelungen. Schon jetzt eins meiner absoluten Jahres-Highlights.