Ratten rennen, Ratten tanzen, Ratten sterben

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r.e.r. Avatar

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Als am vor vergangenen Freitag in Japan Erdbeben und Tsunami über das Land brachen, begann zeitgleich die Hetzjagd nach den aktuellsten Informationen, den spektakulärsten Bildern und den neusten Nachrichten. “Rattenrennen” nennt der erste Chefredakteur von ARD Aktuell dieses Phänomen in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung. “Rattentanz” nennt Michael Tietz sein Katastrophen Szenario, das auf einen Schlag der ganzen Welt den Strom zum Leben entzieht. Er rührt dabei an die ureigensten Ängste der Menschen. Zeigt was passieren kann, wenn alles aus den Fugen gerät.

 

Wellendingen. Ein kleiner Ort im Südschwarzwald. 23. Mai. Sieben Uhr früh. Das Telefon der Familie Faust klingelt. Plötzlich bricht die Verbindung ab. Das Telefon schweigt. Ebenso das Radio. Das Licht geht nicht mehr und aus dem Wasserhahn kommt kein Tropfen. Frieder Faust geht vor das Haus um sein Handy aus dem Auto zu holen. Er wird Zeuge eines Flugzeugabsturzes in unmittelbarer Nähe des Ortes. Noch während er mit seinem Sohn und einigen Nachbarn im Auto unterwegs ist um an der Absturzstelle erste Hilfe zu leisten, stürzt direkt vor Ihnen das nächste Flugzeug ab.

 

Die Ereignisse sind das Resultat einer Handlung die 400 Tage vorher in Hamburg eingeleitet wurde. Axel und Lars, zwei Abiturienten, wollten eigentlich nur ihren Schulcomputer lahmlegen. Sie schickten je eine verseuchte E-Mail an den Hausmeister der Schule, die Sekretärin und den EDV-Lehrer. Der Virus sollte in vierzig Tagen das Betriebssystem der Schule blockieren. Eine Null zuviel macht aus vierzig Tagen vierhundert. Und aus einem kleinen Betrugsversuch eine globale Katastrophe. Das Virus hat über ein Jahr Zeit sich weltweit unerkannt in den sämtlichen Computersystemen einzunisten. Am 23. Mai läuft der Countdown ab. Das Inferno beginnt.

 

Michael Tietz lässt die Zivilisation wie wir sie kennen schon nach wenigen Stunden im völligen Chaos versinken. Bereits zwei Stunden nach dem Totalausfall von Strom und Wasser regiert in der Umgebung von Wellendingen die Anarchie. Polizisten, die Passanten am Plündern einer Bank hindern wollen, werden vom aufgebrachten Mob gelyncht. Einstmals brave Bürger, die am Montag morgen Geld von der Bank abheben wollen und denen dies aufgrund der ausgefallenen Computer verweigert wird, werden zu gewissenlosen Mördern. Da hat es der Autor sehr eilig mit der Gesetzlosigkeit.

 

An anderen Stellen lässt er sich sehr viel mehr Zeit. Ein Beispiel ist Thomas Bachmann. Der junge Mann bleibt am Morgen des 23. Mai im Aufzug des Krankenhauses von Donaueschingen stecken. Er leidet unter einer gespaltenen Persönlichkeit und da ihn seine Stimmen im Kopf davon abhalten um Hilfe zu rufen, dauert es unendlich lange bis er gerettet werden kann. Die Diskussion der Stimmen im Kopf, das für und wieder des Hilferufs nimmt bei unnötig viele Seiten ein, die die spannende Handlung immer wieder unterbrechen.

 

Das ist ärgerlich, denn der Plot ist fesselnd. Vor allem wegen der Frage die man sich selbstverständlich nur allzu bald stellt: Was würde ich selbst reagieren? Der Autor katapultiert die Zivilisation mit wenigen Federstrichen ins Mittelalter zurück. Vom Umfang her hat sein Erstling epische Ausmaße, was auf die Fülle der Figuren, Schauplätze und Hintergrundhandlungen zurückzuführen ist. Das Geschehen lebt von seiner atmosphärischen Dichte, wenn es auch manchmal an literarischer Finesse mangelt.

 

Aber um die literarische Qualität geht es hier wohl nicht in erster Linie. Tietz beschreibt die schlimmsten Abgründe menschlichen Handelns. Ein Szenario wie man es sich auf dem finstersten Grund der Hölle nicht schlimmer vorstellen kann und das man dennoch für plausibel hält. So wie einst Jean- Paul Sartre sagte: „Die Hölle das sind wir“. Ich hätte eigentlich gut darauf verzichten können, mir diese ganz spezielle Hölle vorzustellen. Lesenswert ist sie dennoch.