Ich sehe was, dass du nicht siehst

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r.e.r. Avatar

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Der fünfjährige Jack wohnt mit seiner Ma in Raum. Sie haben Bett mit Zudeck, Tisch, Kommode, Stuhlschaukel und Teppich mit dem “Fleck, den ich aus Versehen verschüttet habe, als ich geboren wurde“. Jack geht jeden Abend in Schrank zu Bett. Denn um neun Uhr macht die Tür _piep piep piep_ und dann kommt Old Nick zu seiner Ma und Jack zählt die Quietscher des Bettes bis alles wieder still ist. Ab und zu schaut das gelbe Gesicht von Gott durch das Oberlicht in Raum, dann wird es ganz hell und Jack und Ma spielen “schreien”. Sie stellen sich auf Tisch unter Oberlicht und machen mit ihren Stimmen soviel Krach wie sie nur können.

 

Emma Donoghues Roman “Raum” beginnt verstörend. Ein kleiner Junge erzählt von seinem fünften Geburtstag, von seiner Mutter, seinem Zuhause und seinem Tagesablauf. Es wirkt befremdend wie Jack erzählt. Er verwendet Worte wie geschneidert, gewisst, gebringt, vergesst, bestimmte Artikel lässt er weg und ihm “passieren” Dinge wie Frühstück, Mittag- oder Abendessen. Die anormale Situation wird durch die besondere Sprache des Kindes hervorgehoben und schafft gleichzeitig eine Distanz zum Geschehen. Man folgt der Handlung objektiv und mit fast sachlichem Interesse. Mit diesem Stilmittel macht die Autorin den Leser zum Beobachter, nicht zum Voyeur. Sie mildert das Schreckliche nicht ab, aber sie zeigt es durch den Filter einer kindlich, naiven Sichtweise.

 

Die Mutter erzählt dem Sohn die Hintergründe ihrer Gefangenschaft. Sie wurde als neunzehnjährige Studentin entführt und eingesperrt. So unterscheidet sich “Raum” von den erschütternden Fällen, die in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit bewegt haben. Es ist nicht der eigene Vater der die Tochter im Keller gefangen hält und mit ihr Kinder zeugt. Eine bereits erwachsene Frau ist von einem Psychopathen verschleppt worden. Das ist nicht minder scheußlich, aber das Verbrechen wider die Natur scheint dennoch weniger schlimm. Mit seinem fünften Geburtstag wird Jack für seine Mutter zu einer Person, der man die Wahrheit zumuten kann. Dass es außerhalb von Raum noch etwas anderes gibt. Eine reale Welt in der andere Menschen “in echt” leben. Die Mutter schmiedet einen ebenso verzweifelten wie riskanten Plan, aus Raum zu fliehen.

 

Man beraubt niemanden der Spannung, wenn man verrät, dass die Flucht gelingt. Denn die Art und Weise wie dies geschieht ist das eigentlich interessante. Wichtig wird es “Danach”, was die Autorin auch so betitelt. Wie verhält sich ein Junge, dessen Universum aus einem 14m² großen Zimmer ohne Fenster bestand, in der realen Welt. Welche Welt ist real? Das “draußen” ist für Jack seltsam und ängstigend. Es ist hell, laut und voller Menschen. Die Eindrücke drohen ihn zu überwältigen. Trotz der Fülle der Ereignisse schafft es die Autorin, das kindlich einfache Wesen der Hauptfigur stimmig beizubehalten und gleichzeitig die vielfältigen Folgen einer derartigen jahrelangen Tortur differenziert zu zeigen.

 

Es ist ein bisschen wie bei dem Spiel “Dingsda”. Ein Kind beschreibt die Realität in der man selber lebt und man erkennt sie doch nicht wieder. Die Sicht der Welt aus Kinderaugen, sie ist der Autorin fast schmerzlich gut gelungen. Sie konfrontiert den Leser mit einigen unangenehmen Wahrheiten. Nach der Befreiung wirkt die Sorge und das Mitleid der Umwelt oft nur aufgesetzt. Gerade die Medien setzen der jungen Mutter zu. “Sie haben ihn gestillt. Ich höre sogar, und das mag einige unserer Zuschauer befremden, dass Sie es immer noch tun”. Ma lacht. Die Frau starrt sie an. “Ist das etwa an der ganzen Geschichte wirklich das Schockierendste?”

 

Das erschütternste an der Geschichte von Emma Donoghue ist viel eher das Resümee das Jack eines Tages zieht: “In Raum war ich sicher, draußen ist es gruselig”. Zu lesen, was Jack gruselig findet und was ihn unsicher werden lässt, das ist das wichtige an diesem Buch. Wer es aufnimmt und beherzigt, der wird etwas für das ganze Leben mitnehmen. In echt!