Im Schwebezustand

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Manche Erinnerungen sind so schmerzhaft, dass sie lieber verdrängt oder in einer Kiste verschlossen werden. Lukas Rietzschel zeigt anhand zweier verwobener Familiengeschichten aus der Lausitz, wie solche Traumata von der Nachkriegszeit bis zur Nachwendezeit transgenerational weitergegeben werden, wenn nicht darüber gesprochen wird. Wie auch in „Mit der Faust in die Wand schlagen“ hat er ein feinfühliges und exaktes Gespür für das Seelenleben von Menschen, die ein zerrissenes, verlassenes Leben nach den Umbrüchen der DDR-Wende führen.

Auf zwei Erzählebenen verknüpft Rietzschel authentisch die Biografien von Jan, der im Krankenhaus arbeitet und den Zerfall sowie Leerstand seiner ländlichen Gegend präzise beobachtet, mit der Familie Kern. Während das Krankenhaus geschlossen werden soll und schon von Wildtieren in Besitz genommen wird, lässt ein Patient nicht locker und drückt ihm eine Kiste voller alter Dokumente in die Hand. „Der Alte“ behauptet, dass es eine Verbindung von Jans Familie zu den Kerns aus Kamenz gäbe – von dieser stammt auch der berühmte Künstler Georg Baselitz, der in den Westen ausgewandert ist. Zuhause beim Vater stößt Jan auf Schweigen und Abwehr – nur zögerlich widmet er sich dem Inhalt der Kiste und findet eine Menge über die Zusammenhänge heraus und welche Vergangenheit seine verstorbene, alkoholkranke Mutter hatte. Alte Wunden werden subtil aufgebrochen, fügen sich zu einem zusammenhängenden Leporello zweier Familien zusammen.

Die Zeitebenen und Handlungsstränge im fiktiven Roman sind chronologisch gewürfelt, doch nach und nach entfaltet sich ein facettenreiches Bild über Erinnerungen, Geheimnisse und Verrat – Lukas Rietzschel schreibt klar, einfühlsam und bringt die Stimmungen und Ereignisse immer exakt auf den Punkt. Skizzenhaft wird aus dem Leben von Günter und seinem Bruder Baselitz erzählt – was es heißt, wenn Familien auseinander gehen und bespitzelt werden, aber auch Baselitz’ Bilder beschreibt Rietzschel bildgewaltig und ergreifend. Wie die Nachkriegszeit Leben für immer verändert und traumatisiert hat, fließen in Baselitz’ Gemälden szenisch ein und auch ein verschwundenes Werk spielt eine Rolle. Doch auch die DDR-Zeit hat viele gezeichnet und belastet, über vieles wurde jahrzehntelang geschwiegen. Auch Jans Eltern erscheinen dem jungen Mann wie Raumfahrer, nicht im Davor und nicht im Danach – im Schwebezustand ohne Andock-Stellen. So wie viele Menschen nach der Wende, die sich im Schatten der früheren Plattenbauten nicht mehr dazugehörig fühlen. Ein eindringliches, ruhiges und bewegendes Aufarbeitungswerk über gespaltene Menschen sowie Biografien zwischen den Welten.