Kopfüber in der Zwischenwelt

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amara5 Avatar

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Schweigen und Sprachlosigkeit dominierten Jans Zuhause in der Lausitz – seine Eltern kamen ihm vor wie Raumfahrer, die in einer Zwischenwelt schwebend gefangen sind. Die alkoholkranke Mutter mittlerweile verstorben, wohnt Jan mit dem in sich gekehrten Vater im Schatten der (ehemaligen) Plattenbauen in Kamenz, schiebt im bald schließenden und von Wildtieren heimgesuchten Krankenhaus Patienten zu den Untersuchungen. Ein mysteriöser Patient namens „Der Alte“ sucht immer wieder Kontakt zu ihm, erzählt von einer Verbindung zum berühmten Deutschbaselitzer Künstler Hans-Georg Kern – alias Georg Baselitz. Zögerlich nimmt Jan eine Dokumentenkiste des Alten entgegen, wühlt sich durch verdrängte Erinnerungen und Zeitgeschichte, durch transgenerationale Traumata und Verschwiegenes, durch Stasi-Vergangenheit und Kunstgeschichte. Langsam kommt er der Verwobenheit seiner Familie mit der Familie Kern auf die Spur und muss sich einem schmerzhaften Familiengeheimnis stellen, dass beiderseits Brüche und über lange Zeit hinweg verletzte Seelen hinterlassen hat.

Lukas Rietzschel spannt in „Raumfahrer“ episodenhaft einen großen Bogen durch die Zeitgeschichte, von der Nachkriegszeit bis zur Nachwendezeit und verknüpft mit vielen zeitlich unsortierten Rückblenden die schicksalhafte Verbindung zweier Familien mit der Malerei von Georg Baselitz, der in den Westen auswanderte. Bekannt wurde der berühmte Gegenwartskünstler durch seine Figuren auf dem Kopf, gezeichnet von Krieg und falschen Ideologien. Rietzschel erzählt in nüchterner, knapper und auf den Punkt gebrachter Sprache in zwei parallelen Erzählebenen und beleuchtet bewegend wie in „Mit der Faust in die Wand schlagen“ zerrissene Menschen nach den Umbrüchen der Wende, die in der Leere der Gegenwart keinen Halt finden. Arbeitslosigkeit, Tristesse, Landflucht, Leerstand, Haltlosigkeit – wie Baselitz’ Figuren schweben auch diese Menschen kopfüber in einem Vakuum ohne Boden unter den Füßen.

Sehr atmosphärisch und skizzenhaft entrollt Rietzschel ein feinfühliges und bewegendes Stück Erinnerungskultur und Aufarbeitung, das neben der präzisen Beschreibungen von Baselitz’ Kunst zwei auseinandergerissene Familien porträtiert und dabei sowie DDR- und Kriegsschrecken miteinbezieht. Manchen Zeitsprüngen im fiktiven Roman fällt es schwer ad hoc zu folgen und doch entwickelt sich Stück für Stück ein vielschichtiges, größeres und eindringliches Bild über Zugehörigkeit, Vergangenheitsbewältigung und alten, unausgesprochenen Wunden, die bis ins Heute wirken – eingebettet in präzise eingefangener Zeitgeschichte.

„Ein untergegangener Staat, eine gescheiterte Idee, deren Anhänger er ja zwangsläufig gewesen war, qua Geburt. Darüber war sich die Welt einig. Der Westen. Also versuchte Vater, seine Spuren zu verwischen. Manchmal zog er einen Reisigbesen hinter sich her, manchmal einen Bulldozer.“ S. 181