Verfall, Verlassenheit und Verlust

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eckenmann Avatar

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Beim Blick aufs Cover sehe ich die Umrisse einer Stadt, sie ist weit entfernt vom Betrachter, davor sieht man ausgedehnte leere ausgedörrte Felder. Der Horizont erstrahlt hellgelb. Am anderen Ende Deutschlands - in Ostsachsen um Kamenz und Bautzen herum.
Verlassenheit und Leere finde ich nicht nur hier sondern vor allem auch in den Geschichten von Krankenpfleger Jans Familie und denen der Brüder Kern. Der Autor verknüpft die Nachkriegsgeschichte der Kerns mit Episoden aus der DDR-Zeit und Entwicklungen der Nachwendezeit bis hin zur unmittelbaren Gegenwart.

"Raumfahrer" fasst für mich die Menschen, die ein wenig wie im Trance in den Zeitläufen schweben und keinen rechten Halt im Hier und Jetzt finden, sich treiben lassen.
Für den Haupthelden Jan sind es vor allem "Mutter, Vater.Für Jan waren sie Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen." (S. 196), "..Nachkriegszeit. Nachwendezeit. Und all die Raumfahrer darin gefangen, kein Vor und kein Zurück." (S. 270) und "Sterne und Mond verdeckt. Ergehörte dazu. Er war ein Raumfahrer wie sie." (S.282)
Mit dieser Äußerung sieht sich Jan - gerade auch als Nachgeborener - als Teil dieses Geschichten-Puzzles, das er nach und nach aufdröselt.
In 57 (römischen) Kapiteln zeigt Lukas Rietzschel eindringlich und mit eher mit wenig Worten, wie verloren, verlassen und verraten sich Menschen fühlen können, die so sehr auch von einer Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen, die übermachtig erscheinen, durchdrungen sind. Dies beschreibt er vor allem an den Eltern von Jan und dem Bruder Günther Kern. Die Momente der frühen Brüderlichkeit mit Georg (Baselitz) erscheinen da in weiter Ferne und können nicht mehr eingeholt werden.
Versuche Georgs, Kontakt zu seinem berühmten in den Westen geflohenen Bruder wiederaufzunehmen, werden raffiniert und konspirativ unterbunden.
Nach und nach entblättert sich vor mir, wie die Geschehnisse um Jans Eltern und den Brüdern Kern miteinander verknüpft und ineinander verflochten sind. Ein wenig ragt Günthers tragisch verunfallter Sohn Thorsten ("der Alte" vom Krankenhaus) in seiner rebellischen Art heraus, aber auch er ist letztlich in den Verhältnissen gefangen.
Der Autor webt in eindringlicher Sprache auch die tragischen Schicksale der alkoholkranken Mutter Jans und Thorstens Vater in das Mosaik seines Romans ein.
Zum Ende hin wird der Verrat der Menschen um Georg Kern herum deutlich, geschickt wird vieles im Nebel gehalten und lange Zeit nur angedeutet.

Ich finde in "Raumfahrer" eine eindrucksvolle Innenansicht und einen mehr als nur melancholischen zuweilen traurigen Blick auf gar nicht blühende Landschaften und Städte der ehemaligen DDR - vor allem aber auf Schicksale der Menschen.
Dabei erscheinen mir die Männer (Jan, Georg, Günther, Thorsten) markanter gezeichnet als die restlichen Figuren, vor allem die Frauen.
Die fiktive Künstlergestalt Baselitz ist mir jetzt nicht so konkret bildhaft geworden - aber in der Dimension des für ihn schlüssigen Abbruchs der Kontakte zur Familie und seiner künstlerischen Konsequenz im Schlusssatz des Romans nachvollziehbar: "Was er nicht noch einmal malte: die Dorfschule, die Vögel des Deutschbaselitzer Großteiches, seinen Bruder" (S.287).
Gerade diese letzten beiden Worte hallen noch lange in mir nach.