Vom zögerlichen Verheilen gesellschaftlicher Wunden

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stoepfel Avatar

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Über vorablesen.de hatte ich die Möglichkeit, dieses Buch bereits vor Erscheinen zu lesen. Danke für die Möglichkeit.
Lukas Rietzschel hat mit „Mit der Faust in die Welt schlagen“ ein literarisches Feld erschlossen, das er auch hier bestellt: Er beleuchtet die DDR und ihr Erbe insbesondere in der Lausitz aus der Sicht der jungen Generation. Eine spannende Sicht, zumal er in beiden Romanen recht schonungslos agiert.
„Raumfahrer“ spannt den Bogen aus meiner Sicht leider ein bisschen weit. Zwei Familienschicksale sind verknüpft, wie genau, glaubt man während des ganzen Romans zu ahnen. Im Zentrum steht Jan, kurz vor der Wende geboren, ein Dagebliebener, der mit der im ganzen Roman spürbaren Tristesse seiner Umgebung gleichzeitig hadert und sich auch arrangiert hat. Mit fragilen Wurzeln ausgestattet. Die Eltern trennten sich, die Mutter verlor er an den Alkohol, das Verhältnis zum Vater ist nicht ohne Spannungen. Denn da ist diese Geschichte, die ihm ein Patient aus dem Krankenhaus, in dem er arbeitet, mitteilen will.
Der Schreibstil von Lukas Rietzschel ist gewohnt flüssig, plastische Bilder werden in kurzen Sätzen gezeichnet. Aus dieser Sicht liest sich das Buch gut. Aber: Erzählt wird auf vielen Zeitebenen, die auch innerhalb der Kapitel abrupt wechseln, was zumindest mir viel Konzentration abverlangte.
Mit von der Partie ist auch die Familie des Künstlers Georg Baselitz, allerdings rein fiktional, das betont der Autor bereits zu Beginn sehr deutlich. Und das ist meiner Ansicht nach der Knackpunkt des Buches. Es hätte dieser Prominenz nicht bedurft, um die Geschichte zu erzählen. Auch wenn Baselitz sowohl mit seiner Biographie als auch mit seinem Künstlernamen viele Verknüpfungen zur Gegend und damit zum Buch bietet. Es gäbe Stoff für ein eigenes Buch. So ist es entweder zu wenig Baselitz oder zu viel Jan.
Dennoch ist das Buch ein gutes, scharf beobachtetes Zeugnis einer gesellschaftlichen Zerreißprobe, die bis heute anhält. Mit dem mikroskopischen Brennglas schaut Rietzschel in eine Zeit und ihre moralisch-menschlichen Verfehlungen, die zu zahllosen Verwerfungen, Resignation und Vertrauensverlust führten. Die Wunden sitzen tief und bluten noch lange nach. Und sie tun weh.