Vom Komiker zum Spannungsautor

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singstar72 Avatar

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Vom Komiker zum Spannungsautor – diese Kehrtwende hatte mich absolut interessiert. Ich kannte Birand Bingül bereits aus seinem ersten Roman. Denn dies ist nicht sein erstes Buch – nur sein erster Krimi…! Sein erstes Buch, „Der Hodscha und die Piepenkötter“, war an den Klassiker „Don Camillo und Peppone“ angelehnt, und porträtierte die Querelen zwischen einem muslimischen Hodscha, und der Ortsvorsteherin, einer Bürgermeisterin – hinter der man Angela Merkel vermuten konnte, aber nicht musste. Das Buch war sehr komisch, brachte dabei aber auch poltisch brisante Themen aufs Tapet. Und es beschäftigte sich mit Politikern, Priestern, ihren Assistenten und den ganzen Verflechtungen zwischendrin.

Ich kann in dem Buch um Mats Holm und Laura May die Fortführung einiger dieser Fäden erkennen. Auch hier geht es um hochrangige Persönlichkeiten, ihre Untergebenen, und was alles hinter den Kulissen getan wird. Es geht um politische Verflechtungen, unerwartete Wendungen, und allerlei persönliche Abhängigkeiten. Aber: das komische Element ist gänzlich verschwunden. Es wurde ersetzt durch eine gnadenlos getaktete Spannungskurve, zahlreiche Hintergrundinfos aus den Bereichen PR und Pharmaindustrie, sowie eine gehörige Prise Zwielichtigkeit auf beiden Seiten.

Ich kann dem Autor nur gratulieren; er hat die Kehrtwende perfekt hinbekommen. Alle Achtung! Ein besonderes Kennzeichen dieses neuen Buches ist für mich die Tatsache, dass man als Leser eben nicht „die“ perfekte Identifikationsfigur vorgestellt bekommt. Moralisch gesehen, muss sich jeder Leser entscheiden, zu wem er halten will.

Mats Holm und Laura May sind ehemals Polizist oder Privatdetektiv, arbeiten nun als PR-Agenten im Auftrag großer Unternehmen. Sie sind für mich aber eben nicht durchgehend sympathische Figuren. Auch sie arbeiten mit Tricks, und legen nichtsahnende Privatpersonen herein – nur um ihrem Kunden Vorteile zu verschaffen. Auch die persönlichen Aspekte geben mir Rätsel auf. Mats Holm hat ein fragwürdiges Verhältnis zu Frauen – das er bisweilen ebenfalls ausnutzt. Ein Saubermann ist er also nicht. Auch zu seiner Kollegin fühlt er sich hingezogen; das wird aber nie deutlicher. In seiner Vergangenheit gibt es einen dunklen Fleck – und dann wird auch noch seine Tochter schwanger… Hier würde ich eventuell einen halben Stern abziehen, weil diese privaten Aspekte erstens nicht zu Ende geführt wurden, und auch für den Fall völlig unerheblich waren. Es sei denn, es ist eine Fortsetzung geplant… dann würden diese offenen Fäden Sinn machen.

Auf der anderen Seite haben wir das riesige (und letztlich skrupellose) Pharma-Unternehmen Wenner, das ein dubioses Schmerzmittel für Kinder vertreibt. Scheinbar sind in Indien unsaubere klinische Studien durchgeführt worden. In Deutschland hat das fatale Folgen, weil etliche Kinder nach Gabe des Medikamentes erkranken; eines stirbt sogar. Aber auch hier ist für mich die Bewertung nicht eindeutig. Ein Kunststück des Autors! Es wird sehr deutlich, dass selbst Chefsekretärin und persönlicher Assistent nur Rädchen in einem komplexen Geflecht sind. Niemand hat den alleinigen Überblick, niemand hat die Entscheidungsgewalt. Alle spielen, teils unbewusst, einander zu. Was natürlich die eine Person, die skrupellos genug ist, für sich ausnutzen kann. Der Autor ist allerdings vorsichtig – ganz am Schluss gibt es noch einen Knalleffekt, nach dem man das gesamte Buch eigentlich noch einmal überdenken müsste.

Wie gesagt, war nicht nur die Figurenzeichnung, sondern auch die Spannungskurve herausragend. Das Buch ist nicht in Kapitel, sondern in vier Tage unterteilt, und diese wiederum nach Uhrzeiten. Man fühlt sich mitten im Geschehen, und hört die Uhr ticken. Es geht teilweise um Entscheidungsspielräume von weniger als einer Stunde – und die sollen es dann wieder herausreißen! Zudem wird noch eine verschwundene Person gesucht, die in Lebensgefahr schwebt.

Sehr gut fand ich auch die vielen Hintergrundinfos. Man merkt sehr deutlich, dass der Autor selber Journalist ist, und sich auskennt. Welche Rolle spielt PR überhaupt? Wie werden Nachrichten gemacht? Was nehmen Zeitungen oder Fernsehsender auf sich, um „die Story schlechthin“ zu landen? Was ist die Rolle von Talkshows, Statements, Leitartikeln? Gibt es überhaupt so etwas wie eine neutrale Meinung? Sehr pointiert gesetzte Fragen, die das Buch stellt.

Ich kann nur sagen, dass ich das Buch auf mehreren Ebenen mit höchstem Genuss gelesen habe. Ich bin sehr gespannt auf die weitere Entwicklung des Autors. Birand Bingül, von Ihnen haben wir noch einiges zu erwarten…!