Erinnerungen

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herbstrose Avatar

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Nach dem Tod seiner Frau braucht Sascha Veränderung, deshalb zieht er in eine neue Wohnung nach Minsk. Er möchte eigentlich nur in Ruhe gelassen werden, doch im Treppenhaus spricht ihn seine neue Nachbarin, eine über 90jährige Frau, an und beginnt, ihm aus ihrem Leben zu erzählen. Zunächst interessiert sich Sascha nicht sonderlich dafür, doch dann merkt er, dass ihn dies von seinem eigenen Kummer ablenkt. Bevor ihre Alzheimer-Erkrankung fortschreitet und sie sich nicht mehr erinnern kann, möchte Tatjana Alexejewna, so ist ihr Name, ihre Erinnerungen weitergeben. Es ist die schier unglaubliche Lebensgeschichte einer Frau, die 1910 in London geboren wurde, 1920 mit ihren russischen Eltern nach Moskau zog, dort ab 1930 für das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten als Übersetzerin arbeitete, später den Architekten Alexej, genannt Ljoscha, heiratete und 1937 Mutter einer Tochter wurde. Dann kommt der II. Weltkrieg - und das Schicksal schlägt zu …

Laut Angaben auf dem Buch ist der Autor Sasha Filipenko ein weißrussischer Schriftsteller, der 1984 in Minsk geboren wurde und Literatur in St. Petersburg studierte, wo er auch heute mit seiner Familie lebt. Er schrieb bisher vier Romane, von denen „Rote Kreuze“ der erste ist, der auf Deutsch erschienen ist.

Es sind hauptsächlich Tatjanas schockierende Erlebnisse, ihr Überleben während der Stalin-Ära, was das Buch so interessant macht. Man erfährt, dass das Internationale Rote Kreuz sich während des II. Weltkriegs ständig bemühte, der Regierung Russlands die Namen ihrer in Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten zukommen zu lassen – ohne Erfolg. Für Stalin und seine Genossen waren Soldaten, die sich lieber in Gefangenschaft begeben als bis zum Tod zu kämpfen, Deserteure, ihre Familien und Angehörigen waren Verräter und entsprechend zu behandeln und zu verhaften. Auch Tatjanas Mann geriet in Gefangenschaft, ihr Schicksal und das ihrer kleinen Tochter war somit besiegelt …

Die Originaldokumente aus dem Archiv des Roten Kreuzes in Genf waren, lt. Aussage des Autors, die Grundlagen des teils dokumentarisch rekonstruierten und teils fiktiven Romans. Den Schreibstil empfand ich als zu sehr sachlich, sodass bei mir als Leserin kaum Emotionen aufkamen. Vermutlich ist das jedoch so gewollt um auszudrücken, dass man in dieser Zeit der Staatswillkür nur überleben konnte, wenn man jede Gemütsbewegung unterdrückte. In einem sehr interessanten Interview am Schluss des Buches sagt der Autor u.A.: „Der Staat tut alles, damit die Menschen die Grausamkeiten des Sowjetregimes vergessen, und unsere Aufgabe ist es, das nicht zuzulassen.“ Ich meine, dem ist nichts hinzuzufügen.

Fazit: Ein Roman über ein wichtiges Kapitel der Geschichte – leider viel zu emotionslos erzählt.