Erzählen gegen das Vergessen

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Alexander will nach einem Schicksalsschlag ein neues Leben beginnen. Mit seiner kleinen Tochter zieht er nach Minsk, wo auch seine Mutter mittlerweile lebt. Gleich bei seinem Einzug in die neue Wohnung bemerkt er aufgemalte rote Kreuze an seiner Tür. So trifft er auf Tatjana, seine 90-jährige Nachbarin, die sich aufgrund ihrer Alzheimererkrankung an den Kreuzen orientieren kann. Zwischen Alexander und Tatjana entwickelt sich eine Generationen übergreifende Freundschaft. Und Tatjana beginnt zu erzählen, von ihrer Kindheit und Jugend im Ausland, ihrer Ehe, der Zeit während des Krieges, als ihr Mann in Kriegsgefangenschaft gerät und wie sie sich und ihren Mann zu retten versucht und dabei an den daraus resultierenden Konsequenzen ihren weiteres Leben lang zu leiden hatte.
Der weißrussische Autor Sasha Filipenko schreibt an wider das sowjetische Vergessen. Rote Kreuze ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint. Das(rote) Kreuz als Symbol zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden. Rote Kreuze als Wegweiser für eine alte demente Frau. Das Rote Kreuz, das während des Krieges unermüdlich versucht das Leid der Kriegsgefangenen zu erleichtern und vom stalinistischen Kriegsapparat genauso unermüdlich ignoriert wird. Das Kreuz als Mahnmal an einen geliebten Menschen und die Fähigkeiten eines Menschen „sein Kreuz zu tragen“.
„Mitten auf dem Feld stand ein Kreuz. Dünn, groß wie ein Mensch. Einfach aber stolz. Zusammengeschweißt aus zwei alten Rohren, abgeblättert und vom Rost zerfressen, schimmerte das Kreuz rötlich…“
Alzheimer mit seiner Heimtücke des Vergessens veranlasst Tatjana, ihr gesamtes Leben vor Alexander auszubreiten, solange sie sich noch erinnert. Doch braucht es den Aufhänger „Alzheimer“ für diese Geschichte? Tatajana wirkt zu stringent um dement zu sein. Das Schicksal der Zeitzeugen müsste nicht unbedingt noch durch eine Erkrankung verstärkt werden.
So erfahren wir die gesamte russische Tragödie des 20. Jahrhunderts anhand von Tatjanas Lebensgeschichte. Es ist eine „Biografie der Angst“ über ein Leben mit Furcht und Schuld und eine Geschichte der Absurdität so manchen menschlichen Handelns. Eine Anklage an das Sowjetregime, eine zornige Rede gegen Gott und die Welt. Dabei sollte man sich aber auch hin und wieder an Alexander erinnern, dessen eigenes Leben eine außergewöhnlich traurige Geschichte bereit hält und die in Tatjanas Redefluss beinahe untergeht.
Erzählen gegen das Vergessen - die Strategie geht auf. Das berührt, macht zornig und betroffen. Allein, der Alzheimerbezug wirkt aufgesetzt.