Gott hat Angst

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gkw Avatar

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Alexander und Tatjana lernen sich im Treppenhaus eines Mietshauses in Minsk kennen.
Alexander ist ein junger Witwer mit einem kleinen Baby, der versucht, sein Leben neu zu ordnen. Tatjana ist über neunzig, sie hat die ganze Geschichte der Sowjetunion erlebt, von der Gründung über den Stalin-Terror bis in die Gegenwart. Nun hat sie Alzheimer und weiß, dass sie ihre Erinnerungen bald verlieren wird. Sie beginnt, Alexander ihre Erlebnisse zu erzählen. Dem ist das zunächst lästig, aber er wird in den Bann dieser ungewöhnlichen Geschichte gezogen. Und auch er öffnet sich und erzählt, was ihm widerfahren ist.

Kommentar:
Auf den ersten Blick haben die beiden nichts gemeinsam:
Alexander - der 30jährige, der unter einem Verlust leidet und sich dem Kummer dennoch nicht hingeben kann, da er sich um seine Tochter kümmern muss.
Tatjana - in ihrem letzten Lebensabschnitt, die unglaubliche Dinge erlebt hat, von denen man nichts mehr weiß und vielleicht auch nicht wissen soll.
Beide gefangen in ihrer Lebensgeschichte, machen sie doch einen Schritt hinaus aus ihrer Einsamkeit, indem sie sich voneinander erzählen.

Und so lernen wir zwei Lebensgeschichten kennen, von denen insbesondere die Tatjanas für mich völlig neue Einblicke in die russische Geschichte bietet. Ich gebe zu, ich weiß wenig über die Sowjetunion, natürlich ein paar Fakten, ein paar Namen, ... Aber was es wirklich bedeutet hat bzw. bedeuten konnte, unter Stalin zu leben, davon hatte ich bisher keine Vorstellung.

Repressionen, Willkür, Kindesentzug, Verhaftungen, Gulag, Erschießungen, Folter, Lager, nichts wird ausgespart in den knapp 280 Seiten und so entsteht ein bedrückendes Zeitdokument.

Das Buch lässt sich zügig lesen, obwohl man das vielleicht nicht sollte. Es gibt die Gespräche zwischen den beiden; in die Erinnerungen Tatjanas sind zusätzlich Gedichte eingebaut und Originaldokumente, die Tatjana übersetzen und abschreiben muss.
Die titelgebenden roten Kreuze ziehen sich als roter Faden durch das ganze Buch, als handgemalte Kreuze an der Wand, als Hilfsorganisation, ...

Was mir besonders gut gefiel:

- Zunächst einmal das Thema, die Handlung. Dies ist ein Inhalt, über den ich bisher nichts wusste und es ist natürlich immer interessant, etwas Neues dazuzulernen.

- Sätze wie z.B. "Weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu."
"Diese Art von Malerei habe ich noch nie gemocht. Konturlose, blasse Töne. In jedem Viereck Ausweglosigkeit."

-Ein Gedicht von Georgij Iwanow, das hat mich total begeistert. Und ich sage mal: Schon um diesen Dichter kennenzulernen, hat sich das Buch gelohnt.

Was mir nicht so gefallen hat:

Die Schicksale von Tatjana und Alexander werden vorgestellt, aber sie sind nicht wirklich miteinander verwoben und auch eine Freundschaft zwischen ihnen habe ich nicht herauslesen können. Und so frage ich mich, warum überhaupt beides in ein Buch gepackt wurde. Tatjanas Geschichte hätte auch ohne Alexander funktioniert.
Ich habe es zwar mit Interesse gelesen, aber ich war nicht "wirklich drin", vielleicht ist es zu distanziert geschrieben, irgendwas Undefinierbares fehlte mir.
Die historischen Dokumente wurden mir im hinteren Teil etwas zu viel, so dass ich sie mehr überflogen habe als gelesen.

Fazit:
Interessantes Thema, gut lesbar, Pflichtlektüre für alle, die etwas über die Sowjetunion unter Stalin erfahren wollen.