Das "Haus des Hahns"

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„,Des Menschen Herz ist ein merkwürdiges Organ’, sagte Asja über das Überleben während jener Zeit. ,Es wächst am Schmerz, und es hofft entgegen aller Hoffnungslosigkeit.‘“

Im „Haus des Hahns“, dem höchsten Gebäude der Stadt, könnten Menschen noch vom Keller aus bis nach Sibirien sehen, sagt der Volksmund, sagen einige, flüstern sie. Denn auch Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als die Schreie der gefolterten Gefangenen von dort längst verklungen sind, beobachtet die kleine Victoria, wie ihre Urgroßmutter Umwege durch die Stadt in Kauf nimmt, um nicht an den Toren mit den riesigen roten Sirenen – auf Ukrainisch „Hähne“ genannt – an den Mauern vorbeizukommen. Es ist diese Angst, die das junge Mädchen nicht verstehen, aber doch fühlen kann und die sie auch nach einem halben Leben im Ausland mit der Annexion der Krim wieder in ihre Heimat zieht. Getrieben von tiefer Unruhe sowie innerer Unsicherheit besucht sie noch in 2014 ihre Großmutter Valentina und versucht so das zeitpolitische Geschehen zu verstehen. Doch aus jeder möglichen Antwort ergeben sich neue Fragen. Schließlich entdeckt sie das Tagebuch ihres Urgroßvaters und liest: „Bruder Nikodim, verschwunden in den 1930er Jahren im Kampf für eine freie Ukraine“ – aber wer ist Nikodim und warum hat sie noch niemals von ihm gehört? Die Spurensuche in der Vergangenheit führt sie von ihrer scheinbar unkooperativen Großmutter in die Tiefen der postsowjetischen Bürokratie …

„Rote Sirenen“ ist ein fesselnder Familienroman, eine intime Erzählung mit politischem Tiefgang sowie die investigative Reise einer Journalistin. Getrieben von persönlichen Fragen beschreibt Victoria Belim in ihrem Debüt den ukrainischen Alltag eindrücklich, schildert die kulturellen Konflikte am Beispiel ihrer Familie und ordnet Vergangenes ehrlich und mitfühlend ein. Sie bringt Licht ins Dunkel der Vergangenheit und wächst merklich an dieser Aufgabe: anfänglich kindliche Gedanken weichen einer erwachsenen Weitsicht, die es schafft, sogar den aktuellen Konflikt in vielerlei Hinsicht zu kontextualisieren, obgleich die Ereignisse im Buch selbst alle vor 2022 stattfinden.

Belim nimmt Lesende an die Hand und zeigt ihnen ihr Land, ihre Familie und ihre Vergangenheit in einer Art Mosaik, das sich allmählich zusammenfügt und ihr Bedürfnis spürbar macht, für die Ukraine endlich eine autarke Geschichte zu schreiben. Sie gibt Einblicke in Kunst und Kultur, Traditionen und Bräuche, Gastfreundlichkeit und Gastronomie, Politik und Personen. Eine wunderbar emotionale Erzählung, die viele Hintergrundinformationen zu einem Leben liefert, dass ich mir bisher nur schwer vorstellen konnte. Leseempfehlung!

Übersetzt von Ekaterina Pavlova.