Die Suche nach den Wurzeln

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kleine hexe Avatar

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Nur wer die Vergangenheit seiner Familie kennt, hat einen festeren Stand im Leben. Victoria Belim macht sich auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Familie. Sie ist Teil einer weit verzweigten multinationalen Familie der Sowjetvölker. Stationen ihrer Suche sind Kiew, Bereh, Majatschka, Poltawa, Reschetyliwka, Mychajliwka, Charkiw.
Allen älteren Generationen ist das Leiden unter Stalins Terrorherrschaft und der großen Hungersnot gemein. Asja, die Urgroßmutter Belims, überlebte die Hungersnot in einem kleinen ukrainischen Dorf. “Millionen von Menschen kamen in Sowjetrussland und Kasachstan ums Leben, aber die Schwarzbodenregion der Ukraine, die Reisenden des 17. Jahrhunderts als Arkadien bekannt war, hatte am meisten unter Stalins Politik zu leiden. Jeder achte Mensch in den ukrainischen Gebieten fiel dem Holodomor, der großen Hungersnot, zum Opfer. Eine Million Kinder unter zehn Jahren starben. Die Hungersnot forderte einen Tribut von mehr als drei Millionen Menschen.” (S. 164) Diese Angst vor der Hungersnot bewirkt, dass Valentina, Asjas Tochter, die nach der Hungersnot geboren wurde, aber auch Victoria Belim, die Enkelin aus Brüssel, immer Lebensmittelvorräte daheim haben. Es sind die großen Traumata mehrerer Generationen, die sich dann unbewusst in den Kindern und Enkeln dieser Generationen fortpflanzen. So ähnlich wie Kinder und Enkel von Holocaust-Überlebenden oder von Kriegskindern. Wer einmal ausgebombt wurde, der reicht diese Angst unbewusst weiter an die kommenden Generationen.
Die sowjetische Propaganda, die sich übrigens auch in unseren Tagen fortsetzt, redete sich heraus, die Hungersnot sei von ukrainischen Nationalisten aus Kanada/USA verursacht worden und verbreitet, um Sowjetrussland zu destabilisieren. Solche und ähnliche Lügen werden heute noch im Netz verbreitet, um Stalin und somit auch Putin von aller Schuld reinzuwaschen.
Einige der Familienmitglieder der Autorin wurden unter Stalin verhaftet und wieder freigelassen, andere verschwanden für immer. So auch Nikodim, der ältere Bruder von Sergij, dem Urgroßvater der Autorin. Irgendwann, in den 30er Jahren wurde er vom KGB mitgenommen und man hörte nie wieder von ihm. Erst der Autorin gelingt es, herauszufinden, was mit Nikodim geschehen war. Nach Verhören und Folter wurde er heimlich und ohne Prozess erschossen, aus dem einfachen Grund, der KGB hatte Planvorgaben, wieviel Menschen hingerichtet werden sollten. Belim darf schließlich seine Akte lesen: nachträglich gefälschte Aussagen, die zum momentanen politischen Diktus der Zeit passen mussten, ist das ein schreckliches Zeitdokument, das Victoria Belim vorgelegt wird. Das Dokument befindet sich im Archiv der KGB, dem Haus in dem vorher die KGB seinen Terror verbreitet hat. Dieses Haus ist auch Titelgebend für das Buch. Im Volksmund heißt es “das Hahnenhaus”, befindet sich in Poltawa und wird von großen steinernen Sirenen verziert. “Äußerlich hatte das Hahnenhaus nichts Furcht Einflößendes an sich. Ganz im Gegenteil, es war das schönste Gebäude von Poltawa. Es Haus zu nennen, war maßlos untertrieben, denn es war ein elegantes Anwesen, das um die Jahrhundertwende als Bank errichtet worden war. Die zwei üppigen roten Sirenen, die das Eingangsportal flankieren, wurden im Volksmund Hähne genannt.” (S. 50). Dieses Haus verbreitet Angst und Schrecken in der ganzen Region.
Bezeichnend für alle Diktaturen, angefangen mit dem Dritten Reich und fortgeführt über Stalin bis zu den Diktaturen der Gegenwart ist, dass Sippenhaft gepflegt wird. Wird ein Mitglied der Familie verhaftet, ist die ganze Großfamilie mitschuldig. Niemand aus der Familie kriegt eine anständige Arbeit mehr, die Anverwandten dürfen die höheren Schulen nicht weiter besuchen, bei allen Amts- und Behördengängen werden ihnen Steine in den Weg gelegt. Es geht soweit, dass sogar die Kinder der Verschollenen keine Renten bekommen, obwohl wir mittlerweile die 80er Jahre und sogar die 90er Jahre schreiben. Und alle diese Anträge, Gesuche, Bittschriften landen in der Akte des verstorbenen Vorfahren und der Bittsteller kann keine Rente erhalten, obwohl er ein Leben lang gearbeitet hat und sie ihm eigentlich zustehen würde. Aber weil der Vater oder der Großvater ein Opfer des KGB war, steht diesem Menschen keine Rente zu.
Viele, die verhaftet und nach einigen Jahren wieder freigelassen wurden, legen sich die Haft und die Diktatur so zurecht, dass sie damit leben können. So leugnet Onkel Wladimir, der Bruder von Belims Vater, obwohl von der KGB für drei Jahre inhaftiert, dass Stalin ein Massenmörder gewesen sei. Der Terror zu Stalins Zeiten redet er schön, “Fehler können passieren”, aber Europa verdanke Stalin trotzdem den Sieg über den Faschismus. Unter uns gesagt: Sowjetrussland hat das Dritte Reich nicht allein besiegt, da gab es auch noch die USA und Großbritannien. Von drei Panzern, die in den USA die Fabrik verließen, gingen zwei in die Sowjetunion als Waffenlieferungen, inklusive Gewehren und Munition.
Das Buch liest sich leicht, ist aber trotzdem schwere Kost. Vor allem wenn man bedenkt, der Erbe Stalins, hat die Ukraine erneut mit einem zerstörerischen Angriffskrieg überzogen. Wie lange wird dieser Krieg wohl dauern?