Ein sehr persönliches Zeugnis

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gabriele 60 Avatar

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Schien die Ukraine vor zehn Jahren noch weit weg und unbekannt zu sein, weiß spätestens seit Putins Angriffskrieg jeder, wo sie sich befindet. Viele wollen mehr über das Land und die Menschen erfahren, die sich so tapfer gegen den Übergriff verteidigen. Da kommen Bücher wie dieses gerade recht. Victoria Belim erzählt von ihrer Familie und der Vergangenheit des Landes in den letzten 100 Jahren.


„Wenn ich das Manuskript jetzt lese, erkenne ich viele Parallelen zwischen vergangenen Kriegen und dem gerade andauernden. Und so traurig es auch ist, werden meine Leserinnen und Leser, die sich mit meiner Heimat auseinander setzen, die Bedeutung dieses Krieges hoffentlich besser verstehen. So ungewiss die Zukunft auch sein mag, lässt mich die Widerstandskraft der Ukraine hoffen, dass sie diesen Krieg gewinnen wird.“, erwähnt die Autorin im Vorwort.


In 5 Teilen und 17 Kapiteln erzählt die Frau, deren väterliche Wurzeln russisch und mütterlichen ukrainisch sind, vom Leben ihrer Familie. Mit fünfzehn Jahren hatte sie zusammen mit ihrer Mutter ihr Heimatland verlassen. Zuerst lebte sie in den Vereinigten Staaten, später zog sie mit ihrem Mann nach Brüssel. Ab 2014, als Putin die Krim annektierte, reiste sie regelmäßig zu ihrer Großmutter Valentina, die im Osten der Ukraine lebte. Sie bringt den Lesern nahe, was die Menschen zwischen 2014 und 2019 (Ende dieses Jahres stellte sie die Besuche wegen der Corona-Pandemie ein und nahm sie wegen des Krieges nicht mehr auf) im Alltag beschäftigte und macht sie mit den Bräuchen des Landes vertraut. Sie spricht die Korruption an und ihre Sicht auf die Sowjetunion:


„Ich habe immer schon gedacht, dass Verlogenheit eine der zerstörerischten Folgen des sowjetischen Systems war. Jeder sagte das eine und dachte etwas anderes. Es war die vernünftigste Art, sich zu verhalten, wenn man überleben wollte.“ (Seite 262)


Der Flug MH17, der am 17.Juli 2014 (in den Anfängen des Krimkrieges) auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur mit russischen Luftabwehrraketen über der Ukraine abgeschossen wurde und 298 Tote zu beklagen hatte, wird ebenso erwähnt wie die Tschernobylkatastrophe, die die Autorin als Kind ganz aus der Nähe erlebte.

Ein großer Teil des Buches befasst sich mit der schwierigen Suche nach ihrem Großonkel Nikodim, der einst spurlos verschwunden war und über den in der Familie nicht gesprochen wurde. Dabei wird deutlich, wie wichtig es ist, Erinnerung zu bewahren.

Manche Episoden sind so ergreifend, dass es für mich gut war, das Buch zwischendurch auf die Seite zu legen und das Gelesene sich setzen zu lassen. Insgesamt bekam ich einen guten Einblick in das Denken der Menschen und ihr Leben. Das Buch, das sich wie ein Roman liest, erläutert nicht nur die Nachrichten, die uns täglich ins Haus flattern, sondern zeigt auch den Reifeprozess der Autorin, deren Verhältnis zur Familie in der Ukraine immer tiefer wurde.


Fazit: Ein Buch, das ich jedem ans Herz lege, der mehr über das Land und die Leute erfahren will.