Familiengeschichte, anhand derer die Geschichte der Ukraine begreifbar wird

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annajo Avatar

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Als Russland im Jahr 2014 die Krim annektiert und die Seperatisten im Osten der Ukraine unterstützt, gerät bei Vika etwas ins Wanken. Als Jugendliche mit ihrer Mutter zusammen in die USA ausgewandert, entwickelt sich jetzt ein dringendes Bedürfnis, ihr Heimatland besser kennenzulernen und die Situation zu verstehen. Da hilft es nicht gerade, dass sie sich mit ihrem Onkel überwirft, der auf der russischen Seite steht. Und dann stößt sie bei ihrer Suche nach der eigenen Geschichte auf den Namen Nikodim, ein Großonkel, der in den 1930ern verschwand und über den in der Familie nicht gesprochen wird seitdem.

"Wir sind der Hinterhof eines Landes, das sich immer noch für ein Kaiserreich hält. bis Russland von seinen imperialistischen Ansprüchen ablässt, werden wir hin- und hergerissen werden." (S. 314)

Victoria Belim, im Ukrainischen auch Vika genannt, erzählt ihre Familiengeschichte auf charmante Art. Natürlich sind die Themen mitunter sehr ernst. Zu Beginn entzweit sie sich mit ihrem Onkel, ist völlig schockiert von dessen Ansichten und Einstellungen zu diesem Krieg. Und dabei handelt es sich gar nicht um den aktuellen russischen Angriffskrieg, denn zu diesem Zeitpunkt war das Buch bereits fertig. Dennoch wirkt alles prophetisch, denn die Risse, die durch Vikas Familie gehen, dürften seit fast einem Jahr durch noch mehr Familien gehen. Doch nicht nur die Krim-Krise wirft einen Schatten auf die Familie. Je mehr Vika in die Vergangenheit ihrer Familie vordringt, desto deutlicher wird, dass jede Generation, die sie noch kennengelernt hat, Kriege oder politische Konflikte miterlebt hat. Nicht selten haben sich Familienmitglieder auch aufgelehnt gegen die jeweiligen Besatzer. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Hahnenhaus, das durch zwei rote Sirenen flankiert wird und in dem Nikodim verschwand und nie mehr zurückkehrte. Und auch später machten Familienangehörige mit dem Haus Bekanntschaft, sodass bis in die heutige Zeit in der Familie Angst vor diesem Haus herrscht.
Und dennoch hat die Geschichte viele charmante oder sogar skurrile Momente. Vika gibt ihre Suche nach Nikodim zwischenzeitlich sogar auf, als sie nicht weiterkommt. Dann konzentriert sich die Erzählung auf ihre Reisen durch die Ukraine und mitunter skurrile Fahrten über das Land zusammen mit ihrer eher mürrischen Großmutter. Dabei lernt man ein Land kennen, in dem die Menschen gastfreundlich gegenüber Fremden sind, jeder irgendwen kennt, der hilfreich sein könnte oder überraschende Familienbande auftauchen. Die Autorin nimmt uns mit in eine spannende Kultur, zeigt Bräuche und kulturelles Erbe und streut immer wieder auch historische Entwicklungen mit ein.
Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass die Geschichte der Ukraine keine einfache ist, dass die Beziehung zu Russland in der Vergangenheit komplex und zwiespältig war und dass noch viele Einflüsse der Sowjetunion im Alltag und in den Köpfen der Menschen zum Zeitpunkt des Buches vorhanden sind. Aber vor allem wird deutlich, dass die Ukrainer in den letzten 100 Jahren und darüber hinaus viel Leid von ihrem Nachbarn erfahren haben und oft, teilweise unter hohen Verlusten, um ihre Souveränität und Identität kämpfen mussten. Leider scheint sich die Geschichte nun zu wiederholen.
Auch wenn das Buch, das die Familiengeschichte der Autorin erzählt, dementsprechend nicht immer einer herkömmlichen Dramaturgie folgt und dadurch einige ruhigere Passagen enthält, habe ich doch einen wertvollen und lehrreichen Einblick in eine kulturelle Identität erhalten, zu der ich dringend Zugang brauchte, um die aktuellen weltpolitischen Ereignisse besser zu verstehen. Das ist der Autorin meiner Meinung nach mit diesem Buch sehr gut und auf sehr menschliche Weise gelungen.