Im Gedächtnis bleibend

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fraedherike Avatar

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„Die Geschichten schmerzhafter Ereignisse verwandeln sich in schwarze Löcher, wenn sie nicht erzählt werden. Die Traumata sind unsichtbar, aber die Schwerkraft, die sie umgibt, wird so stark, dass sie alles in ihrer Nähe aufsaugt.“ (S. 270)

Ein Jahr ist es inzwischen her, dass Russland einen bewaffneten Überfall auf die Ukraine startete. Ein Jahr, und kein Tag vergeht ohne eine neue Nachricht über bewaffnete Angriffe, Waffenlieferungen, Forderungen. Doch was nicht vergessen werden sollte: der Russisch-Ukrainische Krieg fand seinen Anfang bereits 2014 mit der Annexion der Krim.

Ihre ganze Kindheit über wusste Victoria nicht, was sie auf die Frage nach ihrer Nationalität antworten sollte. Ihre Mutter stammt aus der Ukraine, ihr Vater aus Russland, doch in ihrer Familie spielte das keine Rolle. Man beurteilte Menschen nicht nach ihrer Ethnie, Sprache oder Herkunft, vielmehr schätzten sie das Mit- und Nebeneinander der Sprachen und der Kultur. Dennoch fühlte sie sich zwischen zwei Welten gefangen, und diese Identitätssuche sollte sich noch weiter zuspitzen, als ihre Eltern sich trennten und sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in die USA zog. Sie vermisst Kiew, seine prächtigen Kuppeln, das Leben auf der Datscha ihrer Großmutter, lernte ihre neue Heimat aber bald zu schätzen, verinnerlichte die amerikanische Idee des Melting Pots, verlor das Bedürfnis, sich über eine Sprache identifizieren zu müssen.

Die Lage an der Ukrainisch-Russischen Grenze spitzt sich zu. Schwarzer Rauch auf den Straßen, Demonstranten, Schüsse. Voller Entsetzen verfolgt Victoria die Geschehnisse in ihrer Heimat auf dem Fernseher, fernab in Brüssel. Machtlos sieht sie, wie ein Teil von ihr zerstört wird, wie der Krieg auf den Straßen ihrer Heimat seinen Lauf nimmt. Sie sucht Trost im Gespräch mit ihrem Onkel Wladimir, spricht über Skype mit ihm über die Geschichte der Sowjetunion, über ihre Familie, ihre Wurzeln. Doch die Stimmung kippt, sie gehen im Streit auseinander und Victoria fasst einen Plan: Sie wird in die Ukraine, in ihre Heimat reisen, um ihre Wurzeln zu ergründen, um nach Hinweisen ob des Verbleibens ihres Urgroßonkels Nikodim zu suchen, der in den 1930er Jahren plötzlich verschwand – und um den Tod ihres Vaters zu verstehen. Und damit letztlich ihre Gegenwart und sich selbst.

"In meiner Familie wurden gewisse Themen totgeschwiegen. Wir taten so, als ob der Schmerz verschwinden würde, wenn wir nicht darüber redeten. Sergij hat nie über Nikodim gesprochen. Asja hat nie über Krieg gesprochen. Meine Mutter hat nie über ihre Scheidung gesprochen. Ich habe nie über den Selbstmord meines Vaters gesprochen. Keiner von uns war gut darin, sich seinen Ängsten zu stellen." (S. 289f)
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Warmherzig und sehnsuchtsvoll erzählt Victoria Belim in ihrem autobiographischen Debüt „Rote Sirenen“ von der Spurensuche um die Geschichte ihrer ukrainischen Familie, ihrer eigenen Wurzeln. Während ihrer Zeit in der Ukraine wohnt sie bei ihrer Großmutter Valentina, die sich in Schweigen hüllt. Sie möchte nicht über das reden, was ihren Eltern geschah, was sie selbst erlebte, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an den Hunger, die Zeit des Holodomors, die Angst. Noch immer beobachtet Victoria, wie das Erlebte den Alltag ihrer Großmutter prägt, wie sie ihren Obstgarten, die Kirschbäume pflegt, sich um die Aussaht und Ernte der Kartoffeln sorgt. Sie kennt es nicht anders. Und sie ist nicht die Einzige: Victoria reist in die Dörfer, wo ihre Verwandten einst lebten, stößt immer wieder auf Statuen und Straßen zu Ehren sowjetischer Machthaber, lernt ukrainisches Kunsthandwerk kennen, läuft durch Museen und ihr vertraute Waldstreifen. Doch ihre Suche scheint wenig ergiebig, bis sie sich entschließt, das Haus der Roten Sirenen aufzusuchen, das frühere Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, um Einsicht in alte KGB-Akten zu erbeten. Und überall lauert der Schmerz des Vergangenen, wabert wie ein Schleier über den Köpfen der Menschen, die sie auf ihrer Reise trifft, und sie in Schweigen hüllt. Es sei einfacher.
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Gleichermaßen emotional wie sachlich verbindet Belim die Erfahrungen und Fragmente, die sie auf ihrer Reise sammelt, mit historischen Bildern, Aspekten der ukrainischen Kultur- und Landesgeschichte sowie politischen Entwicklungen, die ihre Familiengeschichte beeinflussten, das Leben und Lieben ihrer Urgroßeltern prägten und deren Auswirkungen sie noch heute, zurück in ihrer Heimat, auf der Datscha spürt. Sie schreibt lebendig, macht mit detaillierten Beschreibungen ihre Umwelt erfahrbar, spürbar: den Geruch frischen Gebäcks und feuchter Erde, den kalten Wind auf dem Land, die Feinheit gewebten Stoffes. Ich mochte diese Passagen sehr, das Erfahren und "Sehen" mir unbekannter Traditionen und Landschaften, eine Ahnung des Lebensgefühls zu erhalten, doch teilweise uferte es ein wenig aus, überwog der eher deskriptiven, journalistisch geprägten Stil, und fehlte es an dem gewissen Etwas, das ich noch immer mit Worten greifbar zu machen versuche. Dennoch habe ich eine Menge gelernt, gefühlt, gedacht: über die aktuelle Situation in der Ukraine, meine eigenen Wurzeln und wie sie mich prägen, über das Schweigen und wie es von Generation zu Generation weitergegeben wird, um gebrochen zu werden. Für das Leben im Heute.