Nichts verschwindet spurlos

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owenmeany Avatar

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Als Victoria Belim diese familiäre Spurensuche schrieb, konnte sie vielleicht ahnen, aber nicht wissen, auf welch aktuelles Interesse die Geschichte ihres Heimatlands Ukraine noch stoßen würde. Umso anstößiger wirkt sich deshalb der anfängliche Dialog mit ihrem Onkel Wladimir aus, der eigensinnig die russische Position vertritt und in heutigen Tagen in der westlichen Welt eine gewaltige Provokation darstellt. In meinem Leseeindruck äußerte ich schon die Hoffnung, dass im Laufe des Buchs auch andere Positionen zur Sprache kommen würden, und so ist es ja dann auch.

Mit vielen Dialogen schildert die Autorin in einer sinnlich bildhaften Sprache sehr anschaulich die Menschen und die Milieus, in denen sie agieren. Bei der Spurensuche in erster Linie nach ihrem verschollenen Großonkel Nikodims werden wir vertraut mit der Geschichte, Mentalität, Kultur und Folklore der Ukraine, führen uns aber auch dramatische Episoden vor Augen wie die Rolle der Kosaken, den Hitler-Stalin-Pakt und die Massaker der Weltkriege, danach die Große Hungersnot und die Tyrannei des Geheimdiensts bis zu den Ungereimtheiten der aktuellen Politik wie die Besetzung der Krim.

Diese Fülle an Themen rollt sie auf anhand von Begegnungen mit Verwandten und deren Bekanntenkreis, indem sie aus ihrem US-amerikanischen Wohnort immer wieder für längere Zeit nach Hause reist. Ihre Intention beschreibt sie mit den folgenden Worten auf Seite 174: "Die Ukraine mit neuen Augen zu sehen, war so fesselnd wie die Erforschung meiner Familiengeschichte." Dabei erlebt sie Zeugnisse einzigartiger Gastfreundschaft und Zugewandtheit, aber auch plötzliches Verschweigen von Tabuthemen.

Es fiel mir anfangs schwer, im Laufe der Lektüre aber zusehends leichter, in diesem Mosaik einen roten Faden zu finden und durch einen Spannungsbogen bei der Stange zu bleiben. Wie sie am Ende sogar den Kreis schließt bis hin zur Klärung existenzieller Missverständnisse und eigener psychischer Konflikte, zeigt im Individuellen die Auswirkungen solch historisch-politischer Zwiespälte sehr anschaulich.